6.1.1 Wortlaut

 

Rz. 135

Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Gesetzeswortlaut. Maßgebend ist der in diesem unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers.[1] Der Wortlaut einer Vorschrift ist stets auslegungsfähig. Gesetzestexte sind nie ganz eindeutig.[2] Bereits das einzelne gewählte Wort wird im allgemeinen und besonderen Sprachgebrauch unterschiedlich gemeint und verstanden. Im Steuerrecht ist zu beachten, dass der Gesetzgeber im Steuerrecht teilweise mit fachspezifischen Formulierungen Aussagen trifft, die sich nicht ohne Weiteres auf Gesetze in anderen Rechtsbereichen übertragen lassen. Es gibt sogar beim Sprachgebrauch in den verschiedenen Einzelsteuergesetzen eine unterschiedliche Wortwahl und unterschiedliche Formulierungen. Zur Auslegung kann auch eine von der gesetzgebenden Körperschaft mitbeschlossene amtliche Gesetzesüberschrift herangezogen werden; bei einem Widerspruch zwischen Gesetzeswortlaut und Gesetzesüberschrift ist jedoch stets dem Gesetzeswortlaut der Vorrang einzuräumen.[3]

 

Rz. 136

Die nachfolgend dargestellten Auslegungsgrundsätze gelten gleichermaßen für steuerbegründende Regelungen wie auch für Steuervergünstigungen oder Ausnahmeregelungen.[4] Ebenso erfolgt auch die Auslegung der AO-Vorschriften nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen, wobei insbesondere bei der Auslegung der Vorschriften über das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung (Rz. 161) besondere Bedeutung zukommt. Die Auslegung des AEAO folgt hingegen den für Verwaltungsvorschriften geltenden Grundsätzen (dazu Rz. 108 ff.).

6.1.2 Grenzen der Auslegung

 

Rz. 137

Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation.[1] Gerichte dürfen sich wegen der Bindung an Gesetz und Recht[2] nicht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und nicht unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreifen.[3] Die Auslegung darf daher nicht in Widerspruch zu dem Willen des Gesetzgebers treten.[4] Allerdings ist eine vom möglichen Wortsinn nicht erfasste Lückenschließung des Gesetzes bzw. eine vom Wortsinn nicht mehr gedeckte "Auslegung gegen den Wortlaut" des Gesetzes nicht schlechthin unzulässig, sondern als Rechtsfortbildung (dazu Rz. 168ff.) in den insoweit gezogenen Grenzen zulässig.[5]

[1] BVerfG v. 10.1.1995, 1 BvR 718/89 u. a., BVerfGE 92,1/12; Geserich, DStR-Beihefter 2011, 59 m. w. N.
[5] Zur Trennung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung vgl. z. B. Schenke, DStR-Beihefter 2011, 54 ff.; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 344.

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