Rz. 30

Der Grundsatz von Treu und Glauben, für das Zivilrecht in § 242 BGB geregelt, ist unstr. auch im Steuerrecht zu beachten und dient der Wahrung des Vertrauensschutzes in einem konkreten Steuerrechtsverhältnis. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist zwar über das Vertrauensschutzprinzip im Rechtsstaatsprinzip verankert. Er ist jedoch kein den Gesetzen vorrangiges Recht[1] und kann durch Gesetz eingeschränkt, ausgeweitet, konkretisiert und ergänzt werden. Er steht in einem inneren Zusammenhang mit dem Billigkeitsgedanken und den Billigkeitsregeln der §§ 163 Abs. 1, 227 Abs. 1 AO. Gesetztes Recht kann nur dann im Einzelfall durch den Grundsatz von Treu und Glauben verdrängt werden, wenn das Vertrauen des Stpfl. in ein bestimmtes Verhalten der Finanzbehörde nach allgemeinem Rechtsgefühl in einem so hohen Maß schutzwürdig ist, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssen.[2]

 

Rz. 31

Der Rang des Grundsatzes von Treu und Glauben bestimmt sich nach dem Rang des Rechts, zu dessen Ergänzung er herangezogen wird.[3] Regelmäßig stellen sich Fragen von Treu und Glauben bei der Anwendung einfachen Gesetzesrechts; in diesem Fall hat auch der Grundsatz von Treu und Glauben den Rang eines einfachen Gesetzes.

 

Rz. 32

Mit dem Grundsatz von Treu und Glauben überschneidet sich das im Rechtsstaatsprinzip, insbesondere im Prinzip der Rechtssicherheit und in den Grundrechten, verankerte Vertrauensschutzprinzip. Treu und Glauben und Vertrauensschutz sind jedoch nicht deckungsgleich. Anders als der Grundsatz von Treu und Glauben verpflichtet das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip nicht die Beteiligten eines konkreten Steuerrechtsverhältnisses, sondern alle Träger der Staatsgewalt einschließlich des Stpfl. selbst.[4] In Teilen ist das Vertrauensschutzprinzip durch gesetzliche Regelungen konkretisiert worden.[5] Wirkung gegenüber dem Gesetzgeber entfaltet das Vertrauensschutzprinzip z. B. in Bezug auf die Rückwirkung von Gesetzen (dazu Rz. 77 ff.). Demgegenüber wird im EU-Recht allein ein Grundsatz des Vertrauensschutzes gesehen.[6] Dieser kann auch gegenüber einer nationalen gesetzlichen Regelung gelten.[7]

 

Rz. 33

Der Grundsatz von Treu und Glauben fordert im Rechtsverkehr eines konkreten Steuerrechtsverhältnisses, dass jeder Beteiligte auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren Verhalten, auf das der andere vertraut hat, nicht in Widerspruch setzt.[8] Ein Verstoß gegen Treu und Glauben kann sowohl in der Person des Stpfl. als auch seitens der Verwaltung vorliegen.

 

Rz. 34

Diese Merkmale sind nur Richtlinien, aus denen nach den Umständen des Einzelfalls Tatbestand und Rechtsfolgen hergeleitet werden müssen.[9] Das erfordert notwendig eine Abwägung, bei der auf der Grundlage der tatsächlichen Gesamtumstände des Einzelfalls über die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben zu entscheiden ist.[10] Dies begrenzt bei dem Begehren auf (Nicht-)Anwendung dieses Grundsatzes die Möglichkeiten einer Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 FGO.[11]

 

Rz. 35

Ein konkretes Steuerrechtsverhältnis, zu dem auch die verfahrensrechtlichen Vorschriften gehören[12], setzt ein Steuerpflicht- und/oder Steuerschuldverhältnis i. S. d. §§ 33ff. AO voraus; nur in einem solchen kann sich die für den Grundsatz von Treu und Glauben maßgebende Vertrauenssituation herausbilden.[13] Ein bestimmtes Verhalten der Finanzverwaltung oder des Stpfl. außerhalb dieses Steuerrechtsverhältnisses ist irrelevant. Daher kann sich der Stpfl. nicht auf die vom FA gegenüber einem Dritten gesetzte Vertrauenslage berufen.[14] Aus Treu und Glauben kann sich auch kein schützenswürdiges Vertrauen in die Fortgeltung einer bestimmten Gesetzeslage ergeben.[15]

 

Rz. 36

Beispielsfälle: Für das Gebot der Rücksichtnahme hat die Rspr. spezielle Anwendungsregelungen wie etwa das Gebot zur Verlässlichkeit nach einem bestimmten früheren Verhalten, die Bindung an eine Zusage und das Rechtsinstitut der Verwirkung entwickelt. Dabei stehen für den Grundsatz von Treu und Glauben im Steuerrecht das Verhalten der Finanzbehörden und der Vertrauensschutz für den Stpfl. im Vordergrund. Ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben durch den Stpfl. führt seltener zu entsprechenden Rechtsfolgen.

 

Rz. 37

Vertrauenstatbestand. Im konkreten Steuerrechtsverhältnis muss der eine Teil durch ein bestimmtes Verhalten (Tun, Dulden oder Unterlassen) einen Vertrauenstatbestand dahingehend geschaffen haben, dass der andere Beteiligte bei objektiver Beurteilung annehmen konnte, er werde an seiner Position oder seinem Verhalten konsequent und auf Dauer festhalten.[16] Dies gilt allerdings nur für besonders gelagerte Einzelfälle, in denen etwa das Vertrauen des Stpfl. in ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem Rechtsgefühl in solchem Maße schutzwürdig (zu diesem Merkmal Rz. 39) ist, dass demgegenüber der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten muss.[17]

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