Rz. 26

Das Gewohnheitsrecht als ungeschriebene Rechtsnorm i. S. d. § 4 AO entsteht (ohne förmlichen Entstehungsakt und ohne Verkündigung) durch ständige Übung, die von einem andauernden allgemeinen Rechtsbewusstsein der beteiligten Personenkreise und dessen Rechtsüberzeugung von den Gerichten getragen wird.[1] Der Rang eines Gewohnheitsrechts richtet sich nach seinem Inhalt. Es kann sogar Verfassungsrang haben (sog. Verfassungsgewohnheitsrecht).[2] In der Form von Gewohnheitsrecht kann neues Recht entstehen oder bestehendes Recht geändert werden.

 

Rz. 27

Im Steuerrecht können allerdings wegen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung keine neuen Steuertatbestände durch Gewohnheitsrecht entstehen[3]; ohnehin kann kein Gewohnheitsrecht, insbesondere keine Steuerbefreiung, entgegen dem gesetzten Recht entstehen.[4] Im Übrigen dürfte auch für das Steuerrecht die Entstehung von Gewohnheitsrecht zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein[5]; praktische Bedeutung hat das Gewohnheitsrecht jedenfalls in der jüngeren Rechtsprechung nicht erlangt.

 

Rz. 28

Richterrecht ist weder Gewohnheitsrecht noch sonstige Rechtsnorm i. S. d. § 4 AO, sondern nur Ausfüllung "offen gelassener Gesetzgebung".[6] Dem Gesetzgeber ist es in den Grenzen des Rückwirkungsverbots grundsätzlich unbenommen, eine als missliebig empfundene Rechtsprechung durch – wie häufig geschehen – Nichtanwendungsgesetz zu ändern oder zu beseitigen.[7]

Zur verfassungsrechtlichen Problematik rückwirkender Nichtanwendungsgesetze vgl. Rz. 85ff. Besondere Grundsätze gelten für Nichtanwendungserlasse (dazu Rz. 123ff.).

[1] BFH v. 17.12.2007, GrS 2/04, BStBl II 2008, 608; Koenig/Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 4 Rz. 15 m. w. N.
[2] Dazu Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 4 AO Rz. 151.
[3] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 104; Neumann, in Gosch, AO/FGO, § 4 AO Rz. 13.
[4] Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 4 AO Rz. 155; BFH v. 18.2.1959, II 28/58 U, BStBl III 1959, 176.
[5] BVerfG v. 20.5.1988, 1 BvR 273/88, BB 1988, 1716; so z. B. bei den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung oder der Anerkennung von Rechtsinstituten, vgl. Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 105 f. m. w. N. zur älteren Rspr.
[6] Koenig/Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 4 Rz. 64; Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 4 AO Rz. 166ff.
[7] Dazu z. B. Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 114.

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