1 Anwendung allgemeiner Verfahrensvorschriften (Abs. 1)

1.1 Bedeutung der Vorschrift

 

Rz. 1

Das finanzbehördliche Einspruchsverfahren ist die Fortsetzung des allgemeinen Verwaltungsverfahrens in Steuersachen[1], allerdings in einem besonderen Abschnitt mit der Zielrichtung, die Untätigkeit oder den Verwaltungsakt der Finanzbehörde auf Rechtmäßigkeit und bei Ermessensentscheidungen auch auf Zweckmäßigkeit zu überprüfen und über den Sachverhalt neu zu entscheiden. Es ist also kein reines Rechtsschutzverfahren.

Das Einspruchsverfahren ist kein besonderes förmliches Verwaltungsverfahren, wie z. B. das Bußgeldverfahren wegen Steuerordnungswidrigkeiten. Der Verfahrensablauf ist demgemäß grundsätzlich nicht justizähnlich gestaltet, sondern es gelten die gleichen Verfahrensvorschriften wie in allgemeinen Verwaltungsverfahren, soweit nicht in §§ 347368 AO Sonderregelungen getroffen worden sind.

 

Rz. 2

§ 365 Abs. 1 AO hat insoweit als generelle Verweisungsvorschrift für die Anwendung der allgemeinen Verfahrensvorschriften nur deklaratorische Bedeutung. Dass die Vorschriften, die für den Erlass des angefochtenen oder begehrten Verwaltungsakts gelten, nur sinngemäße Anwendung finden, folgt aus der speziellen Kontrollfunktion des Einspruchsverfahrens.[2]

§ 365 Abs. 1 AO hat keinen Regelungsinhalt hinsichtlich der Organisation der Finanzverwaltung und der Einführung von gesonderten Rechtsbehelfsstellen.[3] Diese Organisationsform ist zwar zweckmäßig, aber gesetzlich nicht zwingend vorgegeben.

 

Rz. 2a

Für die Durchführung des Einspruchsverfahrens gelten nach § 365 Abs. 1 AO die Allgemeinen Verfahrensvorschriften des III. Teils der AO:

Die Beteiligten des Einspruchsverfahrens werden abweichend von § 79 AO in § 359 AO bestimmt. Sie müssen die Handlungsfähigkeit[4] besitzen. Der Einspruchsführer kann sich durch einen Bevollmächtigten[5] vertreten lassen, die Finanzbehörde hat die Bestellung eines Vertreters von Amts wegen[6] zu veranlassen.

Aufseiten der Finanzbehörde als Verfahrensträger ist der Grundsatz der Unparteilichkeit zu beachten. Es gelten insoweit die Vorschriften über Ausschließung und Ablehnung von Amtsträgern und anderen Personen.[7]

[2] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 365 AO Rz. 3.
[3] A. A. Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 365 AO Rz. 30f.
[7] §§ 82 bis 84 AO.

1.2 Aufklärungsbefugnis im Einspruchsverfahren

 

Rz. 3

Die Finanzbehörde hat im Einspruchsverfahren den angefochtenen Verwaltungsakt nicht nur auf seine Recht- bzw. Zweckmäßigkeit zu überprüfen, sondern auch den Sachverhalt aufzuklären. Dieser ist nach § 365 Abs. 1 AO i. V. m. § 88 AO von Amts wegen, auch zugunsten der Beteiligten, zu ermitteln. Hierzu kann die Finanzbehörde sich aller gemäß § 92 AO zulässigen Beweismittel bedienen, wobei sie insbesondere Auskünfte einholen[1], Sachverständige zuziehen[2], Urkunden[3] und Akten beiziehen sowie Augenschein[4] einnehmen kann. Die in diesen Regelungen enthaltenen Einschränkungen[5] gelten allerdings auch im Einspruchsverfahren[6], sodass die Finanzbehörde eine Zeugenvernehmung, wie sie im finanzgerichtlichen Verfahren möglich ist, nicht vornehmen kann.[7] Bei der Beweiswürdigung im Einspruchsverfahren sind etwaige Beweisvorschriften[8] zu beachten.

 

Rz. 4

Die Aufklärungsbefugnis der Finanzbehörde lässt auch im Einspruchsverfahren die Mitwirkungspflichten des Beteiligten unberührt.[9] Seine Mitwirkungspflichten zur Sachverhaltsermittlung bestehen fort und können ggf. auch im Einspruchsverfahren mit Zwangsmitteln[10] erzwungen werden. Die Finanzbehörde kann zur Erfüllung der Mitwirkungspflichten im Einspruchsverfahren nach § 364b AO auch Ausschlussfristen setzen.

[4] §§ 98 bis 100 AO.
[6] Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 365 AO Rz. 55.
[8] Z. B. §§ 159161 AO.
[9] Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 365 AO Rz. 48ff.

1.3 Entscheidungsbefugnis im Einspruchsverfahren

 

Rz. 5

Aus der weitgehenden Aufklärungsbefugnis bzw. Aufklärungspflicht der Finanzbehörde folgt die Entscheidungsbefugnis. Die Finanzbehörde prüft aufgrund des zulässigen Einspruchs den angefochtenen oder begehrten Verwaltungsakt nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO in vollem Umfang nach. Soweit eine Ermessensentscheidung angefochten ist, kann sich die Finanzbehörde nicht auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit beschränken, sondern muss über die Zweckmäßigkeit der Ermessensausübung entscheiden. Die Finanzbehörde trifft eine neue Sachentscheidung, setzt also z. B. die angefochtene Steuer selbst fest, wobei sie auch eine Verböserung vornehmen oder dem Einspruchsbegehren abhelfen kann.[1]

 

Rz. 6

Der Inhalt der Entscheidungspflicht der Finanzbehörde wird durch das Einspruchsverfahren gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsverfahren nicht erweitert. Im Einspruchsverfahren muss keine abschließende Sachentscheidung ergehen, sondern die Finanzbehörde kann die Einspruchsentscheidung wie den angefochtenen Verwaltungsakt unter dem Vorbehalt der Nachprüfung[2] bzw. vorläufig[3] erlassen.

 

Rz. 6a

Die Einspruchsentscheidung, soweit sie eine sac...

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