Rz. 33

Nach § 363 Abs. 2 S. 2 AO ruht das Einspruchsverfahren, wenn sich der Einspruch darauf stützt, dass wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), BVerfG oder einem obersten Bundesgericht anhängig ist. Hierdurch wird eine Vielzahl überflüssiger Einspruchsentscheidungen und Klageverfahren vermieden.[1] Der Eintritt der "Zwangsruhe" setzt demgemäß voraus, dass das die Entscheidung im gerichtlichen Verfahren für die Entscheidung über den Einspruch rechtserheblich ist.[2] Die steuerliche Relevanz für das Einspruchsverfahren ist vom Einspruchsführer schlüssig darzulegen.[3] Ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) führt nicht nach § 363 Abs. 2 S. 2 AO zu einer "Zwangsruhe".[4]

Indem in § 363 Abs. 2 S. 2 AO durch das Gesetz zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften[5] die Wörter "Europäischen Gerichtshof" durch die Wörter "Gerichtshof der Europäischen Union" ersetzt wurden, ergibt sich das nunmehr auch eindeutig aus dem Gesetzeswortlaut.[6] Allerdings kommt bei Verfahren vor dem EGMR nach § 363 Abs. 2 S. 1 AO ein Ruhen des Einspruchsverfahrens "aus wichtigen Gründen" in Betracht.[7]

 

Rz. 33a

Die "Zwangsruhe" tritt kraft Gesetzes ein, unabhängig davon, ob die Finanzbehörde von der Anhängigkeit des gerichtlichen Verfahrens Kenntnis hat. Allerdings erfordert § 363 Abs. 2 S. 2 AO, dass sich der Einspruchsführer in seiner Begründung des Einspruchs auf das konkrete gerichtliche Verfahren stützt.[8] Die Einspruchsbegründung hat nach dem Gesetzeswortlaut und im Interesse der Rechtsklarheit somit verfahrensgestaltende Bedeutung.[9] Anderenfalls tritt die Zwangsruhe nicht ein.[10]

An die Bezeichnung der Sache dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, sofern das Verfahren identifizierbar ist.[11] Es muss nur eindeutig ein Bezug des Einspruchs zu dem Musterverfahren erkennbar sein.[12] Der Einspruchsführer muss mit einer für die Finanzbehörde hinreichenden Klarheit schildern, welche verfassungswidrige Regelung er beanstandet oder welche andere Rechtsfrage er anders als in der angefochtenen Steuerfestsetzung beurteilt und in welchen anhängigen Verfahren vor einem obersten Gericht diese Fragen voraussichtlich geklärt werden.[13] Dabei braucht er weder ein Aktenzeichen noch eine Fundstelle für das Musterverfahren zu benennen.[14]

 

Rz. 33b

Der Eintritt der "Zwangsruhe" setzt voraus, dass das Verfahren noch anhängig[15] und nicht durch eine gerichtliche Entscheidung abgeschlossen ist.[16]

 

Rz. 33c

Die "Zwangsruhe" tritt jedoch nach § 363 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 AO nicht ein, wenn in diesem Punkt die Steuer nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 AO vorläufig festgesetzt worden ist. Die Finanzbehörde kann und muss nun über den Einspruch entscheiden, da der Vorläufigkeitsvorbehalt von einer Einspruchsentscheidung nicht berührt wird.[17] Beide Möglichkeiten "Zwangsruhe" und Vorläufigkeitsvorbehalt, stehen gleichrangig nebeneinander.[18] Die Finanzbehörde kann auch die eingetretene Zwangsruhe dadurch aufheben, dass sie dem Einspruch durch die Aufnahme des Vorläufigkeitsvorbehalts abhilft und im Übrigen über den Einspruch entscheidet.[19] Bei diesem gesetzlichen Fortfall der "Zwangsruhe" ist eine "Fortsetzungsmitteilung" nicht erforderlich.[20] Beide Entscheidungen können gleichzeitig[21] oder zusammen in der Einspruchsentscheidung getroffen werden.[22]

 

Rz. 33d

Die "Zwangsruhe" ist in ihrem Umfang eingeschränkt. Sie tritt nach dem eindeutigen Wortlaut des § 363 Abs. 2 S. 2 AO nur insoweit ein, als sich die offene Rechtsfrage des Musterverfahrens auf den mit dem Einspruch angefochtenen Verwaltungsakt auswirkt. Es tritt nur eine "Teilruhe" ein, wenn im Einspruchsverfahren noch über andere

Streitpunkte zu entscheiden ist. Für den nicht ruhenden Teil des Einspruchsverfahrens hat die Finanzbehörde i. S. d. Beschleunigungsgebots in angemessener Zeit gemäß § 367 Abs. 2a AO eine Teileinspruchsentscheidung zu treffen. Durch diese Gesetzesregelung hat sich die bisherige Auffassung, dass das Einspruchsverfahren insgesamt ruht[23] erledigt. Das Einspruchsverfahren kann später auch durch Allgemeinverfügung oder Abhilfebescheid abgeschlossen werden.[24]

 

Rz. 33e

Die "Zwangsruhe" endet mit Bekanntgabe der den Anlass gebenden gerichtlichen Entscheidung, auch wenn parallel noch weitere Musterverfahren zu dieser Rechtsfrage anhängig sind.[25] Will der Einspruchsführer die Fortdauer der "Zwangsruhe" auch wegen anderer Musterverfahren, so muss er diese vor Erlass der Einspruchsentscheidung in das Verfahren einführen.[26] Auch, wenn das Einspruchsverfahren wegen einer durch den BFH zu klärenden Rechtsfrage ruht und gegen die Entscheidung des BFH eine Verfassungsbeschwerde erhoben wird, setzt sich die "Zwangsruhe" nicht automatisch fort, sondern der Einspruchsführer muss einen Einspruch auf die Verfassungsbeschwerde erstrecken, bevor eine Einspruchsentscheidung ergeht.[27]

Die "Zwangsruhe" end...

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