2.1 Zweck der Aussetzung nach § 363 Abs. 1 AO

 

Rz. 4

Das Interesse des Einspruchsführers an einer zeitnahen Entscheidung und damit beschleunigten Verfahrensabwicklung ist dann nicht vorrangig, wenn dadurch das Interesse an der Einheitlichkeit der Rechtsordnung berührt wird.[1] § 363 Abs. 1 AO gibt der Finanzbehörde die Möglichkeit, bei der Gefahr divergierender Rechtsentscheidungen von dem Abschluss des anhängigen Einspruchsverfahrens insoweit abzusehen, als ein anderes Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren anhängig ist, dessen abschließende Entscheidung auf die Entscheidung über den Einspruch Einfluss hat und ihr i. d. S. vorgreift.

 

Rz. 5

Die Gefahr der divergierenden Rechtsentscheidung, die die Möglichkeit zur Aussetzung nach § 363 Abs. 1 AO begründet, kann eine Verzögerung der Einspruchsentscheidung und damit des Einspruchsverfahrens[2] nur dann rechtfertigen, wenn das Verfahren auf eine endgültige Regelung in der Hauptsache gerichtet ist, also im Einspruchsverfahren. Der Zweck des § 363 Abs. 1 AO rechtfertigt keine Aussetzung in einem auf vorläufigen Rechtsschutz gerichteten Verfahren, also im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung. Im Übrigen widerspricht ein Verfahrensstillstand durch die Aussetzung nach § 363 Abs. 1 AO dem Eilcharakter des AdV-Verfahrens.

[2] Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 363 AO Rz. 46.

2.2 Voraussetzungen der Aussetzung nach § 363 Abs. 1 AO

2.2.1 Zulässigkeit des Einspruchsverfahrens

 

Rz. 6

Mit der Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch, also dem tatsächlichen Stillstand des Einspruchsverfahrens, sollen divergierende Sachentscheidungen verhindert werden. Demgemäß ist eine Aussetzung nur dann berechtigt, wenn die Finanzbehörde aufgrund des Einspruchs auch eine Sachentscheidung treffen kann, also die Sachentscheidungsvoraussetzungen (Zulässigkeitsvoraussetzungen) vorliegen. Das unzulässige Einspruchsverfahren darf nicht nach § 363 Abs. 1 AO ausgesetzt werden[1], sondern es ist als solches ohne Prüfung der sachlichen Einwendungen nach § 358 Satz 2 AO zu verwerfen.

[1] Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 363 AO Rz. 30; Brandis, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 363 AO Rz. 2; eine Aussetzung kommt nur dann in Betracht, wenn die vorgreifende Entscheidung für die Zulässigkeit des Einspruchs Bedeutung hat, s. Werth, in Gosch, AO/FGO, § 363 AO Rz. 8.

2.2.2 Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses

 

Rz. 7

Die Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch setzt ferner voraus, dass die der Einspruchsentscheidung vorgreifende Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses befindet. Rechtsverhältnisse i. d. S. sind die aus einem konkreten Sachverhalt resultierenden Rechtsbeziehungen zwischen verschiedenen Rechtssubjekten oder zwischen Rechtssubjekten und Rechtsobjekten.

 

Rz. 7a

Für die Aussetzung nach § 363 Abs. 1 AO ist es ohne Bedeutung, ob die Rechtsverhältnisse öffentlich-rechtlichen, z. B. steuerrechtlichen, oder privatrechtlichen Rechtscharakter haben.[1] Der Begriff des Rechtsverhältnisses ist weit auszulegen.[2]

 

Rz. 7b

Es ist auch nicht erforderlich, dass das Rechtsverhältnis zwischen der Finanzbehörde und dem Beteiligten besteht.[3] Das Rechtsverhältnis muss nur Einfluss auf die Sachentscheidung haben.

 

Rz. 8

Kein Rechtsverhältnis i. d. S. ist eine Rechtsfrage[4], z. B. ob eine Rechtsnorm anwendbar ist. Über diese Rechtsfrage ist gerade im anhängigen Einspruchsverfahren zu entscheiden, sodass eine Aussetzung i. S. v. § 363 Abs. 1 AO zumindest zweckwidrig wäre.[5] Auch die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm ist eine solche Rechtsfrage, die die Verfahrensaussetzung auch bei einem anhängigen Normenkontrollverfahren nicht zulässt.[6]

 

Rz. 9

Kein Rechtsverhältnis liegt vor, wenn ein Musterprozess anhängig ist.[7] In solchen Fällen kommt nur ein Ruhen des Verfahrens in Betracht.[8]

Rz. 10 einstweilen frei

 

Rz. 10a

Auch die Frage, ob eine Steuerhinterziehung vorliegt, wenn die Geltendmachung des im Einspruchsverfahren streitigen Steueranspruchs hiervon abhängt, z. B. bei der Haftung nach § 71 AO, ist kein vorgreifliches Rechtsverhältnis, sondern eine Rechtsfrage (s. Rz. 8). Über dieses Tatbestandsmerkmal haben die Finanzbehörde und ggf. das FG in eigener Kompetenz zu entscheiden.[9]

 

Rz. 10b

Kein die Aussetzung rechtfertigendes Rechtsverhältnis ist die Möglichkeit einer Rechtsänderung, auch wenn sie sich schon konkret abzeichnet.[10]

 

Rz. 11

Ein schwebendes Verständigungs- oder Schiedsverfahren über völkerrechtliche Vereinbarungen nach § 2 AO rechtfertigt keine Aussetzung der Einspruchsentscheidung nach § 363 Abs. 1 AO.

[1] BFH v. 1.12.1992, VII B 229/91, BFH/NV 1994, 479; Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 363 Rz. 71.
[2] FG Baden-Württemberg v. 15.11.1968, II 905/67 Z, EFG 1969, 136.
[3] Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 363 AO Rz. 74.
[4] Klein/Rätke, AO, 14. Aufl. 2018, § 363 Rz. 7; Hardtke, in Kühn/v.Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 363 AO Rz. 2; Werth, in Gosch, AO/FGO, § 363 AO Rz. 10.
[5] Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 363 AO Rz. 79; s. auch Brandis, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 363 AO Rz. 5.

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