1 Rechtscharakter der Zinsen; Rechtsentwicklung

 

Rz. 1

Die Vorschrift über die Festsetzung von Zinsen hat eine rein verfahrenstechnische Bedeutung.[1] Die Zinsen sind steuerliche Nebenleistungen i. S. d. § 3 Abs. 4 AO. Zu ihrer materiell-rechtlichen steuerlichen Behandlung vgl. Pahlke, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 233 AO Rz. 24-27.

In der Sache hat die Vorschrift Entschädigungscharakter. Wer an sich eine steuerliche Geldleistung (außer steuerlichen Nebenleistungen) zu zahlen hätte, dies aber aus einem der in §§ 234237 AO genannten Gründe zeitweise nicht tut, soll den dadurch Benachteiligten in der Form der Zinszahlung entschädigen. Die Zinsen auf Steuernachforderungen und Steuererstattungen nach § 233a AO sind sogar Zinsen vor Fälligkeit. Sie stellen damit eine Besonderheit unter den Zinspflichtregelungen im deutschen Recht dar. Sie können auch nicht Verzugszinscharakter haben, sondern sollen der Idee nach lediglich Ungleichheiten beseitigen.[2]

 

Rz. 1a

Mit der Einführung der Vollverzinsung ist § 239 Abs. 1 S. 2 und S. 3 AO eingefügt worden. Diese Bestimmungen wurden durch das StMBG neu gefasst. Durch das Grenzpendlergesetz v. 24.6.1994 wurde § 239 Abs. 1 Nr. 5 AO sprachlich neu gefasst. Durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016[3] wurden § 239 Abs. 3 und 4 AO, die verfahrensrechtliche Regelungen enthalten, angefügt.

 

Rz. 2

Die Übergangsregelungen enthalten Art. 97 § 15 Abs. 3, 4, 10 und 12 EGAO. Nach Abs. 3 dieser Vorschrift gelten die Regeln des § 239 Abs. 1 AO über die Festsetzungsfrist für alle Fälle, in denen die Festsetzungsfrist gem. § 239 Abs. 1 AO nach dem 31.12.1977 beginnt. Art. 97 § 15 Abs. 4 EGAO lässt § 239 AO i. d. F. des SteuerreformG 1990 und des WohnungsbauförderungsG v. 22.12.1989 für alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis gelten, die nach dem 31.12.1988 entstehen. Art. 97 § 15 Abs. 3 und 4 EGAO sind somit nicht lex specialis zu Art. 97 § 10 Abs. 5 EGAO.[4] Art. 97 § 15 Abs. 10 EGAO änderte in den §§ 238 u. 239 AO genannten DM-Beträge in EUR.

§ 239 Abs. 3 AO ist gem. Art. 97 § 15 Abs. 12 S. 1 EGAO auf nach dem 31.12. 2016 geltende Feststellungszeiträume anzuwenden. Gem. Art. 97 § 15 Abs. 12 S. 2 EGAO findet § 239 Abs. 4 AO auf alle auf Zinsbescheide nach dem 31.12.2016 Anwendung.

 

Rz. 3

Durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung v. 12.7.2022[5] wurde in § 239 Abs. 1 Satz 1 AO die Festsetzungsfrist auf "zwei Jahre" verlängert. Ferner wurde § 239 Abs. 1 Satz 2 AO um eine Nr. 6 erweitert und § 239 Abs. 5 AO eingefügt.

Die Bestimmungen des § 239 Abs. 1 Satz und Satz 2 AO sind gem. Art. 97 § 15 Abs. 15 EGAO ist allen Fällen anzuwenden, in denen die Festsetzungsfrist am 21.7.2022 noch nicht abgelaufen ist.

Die Frist des § 239 Abs. 5 AO gilt vorbehaltlich des § 176 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 AO für alle am 21.7.2022 anhängigen Verfahren.[6] Bei der Neuberechnung der ausgesetzen Zinsen ab 1.1.2019 findet aber § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO keine Anwendung; hier ist – sowohl bei Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen – immer der Zinssatz von 0,15 % je Monat anzuwenden.

 

Rz. 4

§ 239 AO ist mit dem unionsrechtlichen Erstattungsanspruch vereinbar. Es gilt der Grundsatz der Verfahrensautonomie; ein Verstoß gegen den Äquivalenzgrundsatz oder den Effektivitätsgrundsatz liegt nicht vor.[7] Auf die Zinsfestsetzung zu einer Verbrauchsteuer (Vergütung nach dem EnergieStG) ist § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht anwendbar; ein Verstoß gegen den unionsrechtlichem Effektivitätsgrundsatz liegt insoweit nicht vor.[8]

[1] BFH v. 8.5.2015, V B 5/15, BFHNV 2016, 7; Kögel, in Gosch, AO/FGO, § 239 AO Rz. 6.1.
[3] BGBl I 2016, 1679.
[4] BFH v. 22.5.1984, VII R 60/79, BStBl II 1984, 697.
[5] 2. AOÄndG, BGBl I 2022, 1142.

2 Anwendung der Vorschriften über die Steuern (Abs. 1 Halbs. 1)

 

Rz. 5

Abs. 1 S. 1 erklärt die für die Steuern geltenden Vorschriften allgemein für entsprechend anwendbar. Die Verjährungsfrist beträgt -abweichend von § 169 Abs. 2 AO- nunmehr einheitlich zwei Jahre. Dies entspricht der Regelung in § 171 Abs. 10 und 10a AO.; zur erstmaligen Anwendung Art. 97 § 15 Abs. 15 EGAO.

Da die Zinsen steuerliche Nebenleistungen sind, finden die meisten Vorschriften der AO nach § 1 Abs. 3 S. 1 AO auf sie ohnehin Anwendung. Da aber nur die Festsetzung von Steuern geregelt ist und § 239 Abs. 1 AO keinen anspruchsbegründenden Charakter hat, kann die Regelung keine Haftung für Zinsen beinhalten.[1]

 

Rz. 6

Anzuwenden sind nach § 239 Abs. 1 S. 1 AO jedenfalls die Vorschriften über die Steuerfestsetzung, ihre Aufhebung und Änderung.[2] In Betracht kommen alle Änderungsvorschriften einschließlich der Berichtigung nach §§ 129, 164, 165, 172177 AO. § 233a AO enthält in Abs. 5 eine besondere Änderun...

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