Rz. 95

Wird eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung erstmals erlassen, geändert oder aufgehoben, die steuerrechtliche Bedeutung hat, ist danach zu unterscheiden, ob diese Entscheidung nur Beweisfunktion für das Steuerrecht entfaltet oder Bindungswirkung hat. Soweit eine solche Entscheidung nur Beweisfunktion hat, hat eine Anpassung einer Steuerfestsetzung über § 173 AO (neues Beweismittel) zu erfolgen.[1]

Ein zivilrechtliches Leistungs- oder Feststellungsurteil gestaltet den Sachverhalt nachträglich nicht anders, sondern hat nur deklaratorische Wirkung. Es kann daher kein "rückwirkendes Ereignis" sein.[2] So ist die Entscheidung eines Arbeitsgerichts, es bestehe ein Arbeitsverhältnis, nicht für die steuerliche Behandlung bindend.[3] Begründet wird dies u. a. damit, dass im Arbeitsgerichtsprozess, ebenso wie im Zivilprozess, der Streitstoff zur Verfügung der Parteien steht. Es besteht auch keine Bindung an die Feststellung in einem Scheidungsverfahren, die Ehegatten hätten dauernd getrennt gelebt.[4] In diesem Fall tritt zwar Bindung an den konstitutiven Teil des Urteils (Tenor "Ehescheidung"; die Finanzbehörde kann die Ehegatten also nicht mehr als verheiratet behandeln), nicht aber hinsichtlich der Frage des Getrenntlebens ein, die zu den Gründen gehört und daher keine Bindung entfaltet. Auch das Auffinden eines Testaments berechtigt nicht zur Änderung der ErbSt-Festsetzung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO. Es handelt sich um eine neue Tatsache/neues Beweismittel, sodass die Folgerungen nach § 173 AO zu ziehen sind.

 

Rz. 96

Hat eine behördliche Entscheidung Bindungswirkung auch für die Steuerfestsetzung, handelt es sich regelmäßig nicht um ein rückwirkendes Ereignis, sondern um einen Grundlagenbescheid.[5] Die Änderung der Steuerfestsetzung erfolgt dann nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO, nicht nach Nr. 2 wegen eines rückwirkenden Ereignisses.

 

Rz. 97

Nur eine (gesetzliche) Vermutung, keine konstitutive Feststellung enthält nach § 2365 BGB auch der Erbschein. Solange der Erbschein besteht, ist damit die Erbenstellung bewiesen. Eine Aufhebung des Erbscheins bzw. eine neue oder erstmalige Erteilung führt deshalb, soweit erforderlich, zur Anpassung der Steuerfestsetzung nach § 173 AO wegen Vorliegens eines neuen Beweismittels, nicht dagegen nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO.[6]

 

Rz. 98

Die Entscheidung einer Behörde oder eines Gerichts ist daher für die Entscheidung der Finanzbehörde regelmäßig nicht bindend. In aller Regel hat eine Finanzbehörde alle für die Besteuerung maßgebenden Fragen selbst zu entscheiden und ist daher weder an behördliche noch an gerichtliche Entscheidungen gebunden, außer an Entscheidungen der FG in der gerade entschiedenen Sache – Rechtskraft. Allerdings sollte die Finanzbehörde die Entscheidung der zuständigen Behörde oder der Gerichte berücksichtigen, da diese an der Vorfrage "näher daran" sind.[7] Eine rechtliche Bindung ist damit jedoch nicht verbunden.

 

Rz. 99

Die Entscheidung einer anderen Behörde oder eines Gerichts kann jedoch auch konstitutiv i. d. S. sein, dass diese Entscheidung einen Lebenssachverhalt oder eine Güterzuordnung neu gestaltet oder schafft. Dann ist die Finanzverwaltung an diese Entscheidung gebunden, ebenso wie sie von dem Vorliegen eines Sachverhalts grundsätzlich nicht abweichen und einen anderen Sachverhalt fingieren darf. Grundsätzlich entfalten nur gerichtliche Gestaltungsurteile diese konstitutive Wirkung, nicht jedoch Leistungs- und Feststellungsurteile.[8]

Fälle dieser Art sind etwa:

  • Erteilung oder Widerruf einer Konzession[9];
  • Schließung, Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung einer Ehe[10];
  • Anfechtung der Vaterschaft bzw. Ehelichkeit eines Kindes[11];
  • Anerkennung der Vaterschaft des nicht ehelichen Vaters[12];
  • Ehelicherklärung eines Kindes[13] bzw. Anerkennung der Vaterschaft[14];
  • Annahme an Kindes Statt[15], Aufhebung der Annahme (§§ 1759ff. BGB);
  • Anerkennung als Asylbewerber[16];
  • Erteilung oder Aufhebung eines Bewilligungsbescheids über Arbeitslosengeld.[17]

Wird in diesen Fällen die behördliche oder gerichtliche Entscheidung erstmals erlassen, geändert oder aufgehoben, sind die entsprechenden Steuerfestsetzungen nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO zu ändern. Präjudiziell ist dann aber nur der Tenor der Entscheidung des Gerichts oder der Verwaltungsbehörde, nicht die Gründe. Wird z. B. eine Ehe wegen mehrjährigen Getrenntlebens geschieden, ist nur der Ausspruch über die Scheidung präjudiziell, nicht die (nicht der Rechtskraft fähige) Feststellung des Getrenntlebens.[18]

 

Rz. 100

Ein zivilrechtliches Leistungsurteil hat grundsätzlich keine rückwirkende Kraft und führt daher nicht zur Änderung des Steuerbescheids nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO (Rz. 95). Etwas anderes gilt bei einer Ertragsteuer aber, wenn es für die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen auf einen Stichtag ankommt, also in den Fällen der §§ 16, 17 EStG. Wird durch ein gerichtliches Urteil der Kaufpreis verändert, ist dies ebenso wie in anderen Fällen ein rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1...

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