Rz. 46

§ 174 Abs. 1 AO ist nur anwendbar, wenn eine Kollision in den Regelungsbereichen der Steuerbescheide vorliegt, wenn also ein Steuerbescheid einen Sachverhalt in seinen Regelungsbereich unrechtmäßig einbezogen hat (unvereinbare doppelte Berücksichtigung). Die Frage, wie oft und in welchem Steuerbescheid ein Sachverhalt zu berücksichtigen ist, beantwortet die sich aus dem gesetzlichen Tatbestand ergebende Regelung des sachlichen und zeitlichen Umfangs der jeweiligen Stpfl. (sachlicher und zeitlicher Regelungsbereich). Die Frage, bei welchen Stpfl. der Sachverhalt zu berücksichtigen ist, beantwortet die materielle Regelung der Stpfl. (persönlicher Regelungsbereich). Eine widerstreitende Steuerfestsetzung liegt vor, wenn ein Sachverhalt infolge unrichtiger Abgrenzung dieses Regelungsbereichs mehrfach erfasst wird.

 

Rz. 47

Die Rspr.[1] sieht es nicht als Voraussetzung des Abs. 1 an, dass die doppelte Erfassung des Sachverhalts, und damit die Kollision der Regelungsbereiche, auf einer irrtümlichen Steuerfestsetzung beruht. Die Vorschrift ist auch anwendbar, wenn das FA bei der zweiten Steuerfestsetzung die Doppelerfassung kennt.

 
Praxis-Beispiel

Das FA hat eine Einnahme im Jahr 01 erfasst. Bei der Veranlagung des Jahres 02 erkennt die Finanzbehörde, dass die Einnahme im Jahr 02 zu erfassen ist. Es kann jetzt die Einnahme bei der Veranlagung 02 erfassen, obwohl es weiß, dass damit ein Widerstreit zu der Veranlagung des Jahres 01 herbeigeführt wird. Die Veranlagung des Jahres 01 kann nach Abs. 1 geändert werden.

 

Rz. 48

Systematisch ist es richtig, die Änderungsmöglichkeit nicht von einem Irrtum der Finanzbehörde bei der späteren Veranlagung abhängig zu machen. Andernfalls wäre die Änderungsmöglichkeit zu weitgehend eingeschränkt. Es ist kein rechtfertigender Grund ersichtlich, die Änderungsmöglichkeit auszuschließen, wenn das FA schon vor Abschluss der späteren Veranlagung den Fehler in der ersten Veranlagung erkennt, dagegen die Änderung zuzulassen, wenn das FA den Fehler erst nach Abschluss der späteren Veranlagung bemerkt. Auch der Wortlaut des Abs. 1 gibt keine Anhaltspunkte für eine solche unterschiedliche Behandlung.

 

Rz. 49

Ob ein Vorgang nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen, ob also unvereinbare, widerstreitende Steuerfestsetzungen vorliegen, richtet sich nach den Einzelsteuergesetzen. Es ist daher in jedem Einzelfall zu prüfen, ob nach dem Regelungsbereich der jeweiligen Steuerbescheide, der sich nach der betreffenden gesetzlichen Regelung richtet, ein Ausschließlichkeitsverhältnis besteht. Es muss sich dabei um eine zwingende rechtliche Unvereinbarkeit handeln, die Regelungsbereiche mehrerer Steuerbescheide müssen kollidieren. Die für den gleichen Sachverhalt in den beiden Bescheiden getroffene Regelungen dürfen nicht miteinander vereinbar sein und müssen sich nach materiellem Recht zwingend ausschließen. Bloß logisch nicht miteinander zu vereinbarende Entscheidungen genügen nicht für die Anwendung des § 174 Abs. 1 AO.[2] Nicht ganz unbedenklich daher die Formulierung in BFH v. 6.12.1979, IV B 56/79, BStBl II 1980, 314, im zu entscheidenden Fall sei es "widerstreitend i. S. d. amtlichen Überschrift des § 174 AO". Ob die Vorschrift anwendbar ist, kann sich nur aus einer Subsumtion unter einen der Tatbestände des § 174 AO, nicht aus der Überschrift ergeben.

 

Rz. 50

Ein solches Verhältnis rechtlicher Unvereinbarkeit hinsichtlich des gleichen Sachverhalts besteht zwischen ErbSt/SchenkungSt und ESt sowie zwischen ErbSt/SchenkungSt und GrESt.[3] Das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen USt und anderen Verkehrsteuern, wie z. B. GrESt und Rennwett- und LotterieSt.

 

Rz. 51

Nicht unter Abs. 1 fallen daher die Fälle der falschen Periodenabgrenzung, da hier der Sachverhalt nur einmal – wenn auch im falschen Besteuerungszeitraum – berücksichtigt worden ist. Keine widerstreitenden Steuerfestsetzungen liegen auch vor, wenn der Sachverhalt zwar zulässigerweise doppelt berücksichtigt wurde, bei der einen Steuerart aber ohne sachlichen Grund andere Werte zugrunde gelegt wurden als bei der zweiten Steuerart.

 
Praxis-Beispiel

Die Werte, mit denen ein abnutzbares bewegliches Wirtschaftsgut des Anlagevermögens aktiviert wurde, weichen von den Werten ab, die der Berechnung der InvZul zugrunde gelegt wurden. Es liegen keine widerstreitenden Steuerfestsetzungen vor. Eine widerstreitende Steuerfestsetzung wäre nur gegeben, wenn es ausgeschlossen wäre, dass ein Wirtschaftsgut gleichzeitig aktiviert und hierfür InvZul gewährt wird.

 

Rz. 52

§ 174 Abs. 1 AO ist daher auch nicht anwendbar, wenn bei einem Geschäft zwischen zwei Stpfl. die Bilanzierung zu unterschiedlichen Werten erfolgt. Das Steuerrecht kennt insoweit grundsätzlich kein "Korrespondenzprinzip". Jeder Stpfl. ist selbstständig zu behandeln. Die Behandlung bei einem Stpfl. führt nicht mit rechtlicher Notwendigkeit zu einer entsprechenden Behandlung bei einem anderen Stpfl.[4] Eine korrespondierende Bilanzierung hat die Rspr. nur in Ausnahmefällen angenommen.[5] Entsprec...

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