Rz. 25

Abs. 1 S. 2 enthält 5 Fallgruppen, bei denen die Steuerfestsetzung vorläufig ergehen kann, weil nicht zu beseitigende Unsicherheit über das anzuwendende Recht oder seine Auslegung besteht. Diese 5 Tatbestände sind enumerativ und abschließend geregelt. Vorläufigkeit ist nur zulässig, wenn einer der 5 Tatbestände erfüllt ist. Die Regelungen sind Ausnahmeregelungen von dem Grundsatz, dass rechtliche Unsicherheit im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens durch Auslegung zu lösen ist und keinen Grund für eine vorläufige Steuerfestsetzung darstellt. Die Tatbestände des Abs. 1 S. 2 sind insoweit also abschließende Sonderregelungen und keiner weiteren Ausdehnung fähig.

 

Rz. 26

In der Literatur[1] wird teilweise vertreten, dass es sich bei diesen Tatbeständen um Unterfälle des Abs. 1 S. 1 handelt. Dem wird nicht zugestimmt. Welches Recht gilt und wie es auszulegen ist, ist von der Finanzbehörde in eigener Zuständigkeit zu ermitteln. Es ist, anders als in den Fällen des Abs. 1 S. 1, keine unzumutbare Sachverhaltsaufklärung erforderlich, sondern nur eine immer zumutbare Ermittlung des anzuwendenden Rechts. Das gilt auch im Fall der Verfassungswidrigkeit einer Norm. Solange das BVerfG die Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt hat, ist das Gesetz von der Verwaltung anzuwenden. Die Steuerfestsetzung könnte also endgültig erfolgen. Der Rechtsgrund des Abs. 1 S. 2 liegt daher nicht, wie bei S. 1, in einer mit zumutbarem Aufwand nicht zu beseitigenden Ungewissheit, sondern in der praktischen Überlegung, Massenrechtsbehelfe möglichst zu vermeiden.

 

Rz. 27

Nicht durch Abs. 1 S. 2 erfasst werden insbesondere folgende Fälle, in denen eine vorläufige Steuerfestsetzung nicht zulässig ist:

  • Es ist eine Gesetzesänderung mit rückwirkender Kraft geplant, die nicht auf einer Entscheidung des EuGH und nicht auf einer vom BVerfG ausgesprochenen Verpflichtung beruht. Das Gesetz muss Bestimmungen zur Durchbrechung der Bestandskraft und evtl. der Festsetzungsfrist enthalten.
  • Es ist ein Musterverfahren bei einer Verwaltungsbehörde oder einem FG anhängig, in dem es um die Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Recht geht oder um eine Auslegungsfrage des einfachen Gesetzes, auch wenn von den Parteien beabsichtigt ist, dieses Verfahren als Musterverfahren bis zum EuGH, BVerfG oder BFH zu betreiben. Das Gesetz sieht für diese Fälle keine Vorläufigkeit vor. Vorläufigkeit ist erst möglich, wenn ein Verfahren vor dem EuGH, dem BFH oder dem BVerfG anhängig ist.
  • Die Verwaltung beabsichtigt den Erlass einer Verwaltungsanweisung. Es besteht in diesen Fällen für die Finanzbehörde keine Möglichkeit, den Eintritt der Bestandskraft eines erlassenen Steuerbescheids zu verhindern oder eine eingetretene Bestandskraft zu durchbrechen.

In diesen Fällen ist es nur möglich, die Steuerfestsetzung, ggf. im Einvernehmen mit dem Stpfl., zurückzustellen oder den Stpfl. auf das Einspruchsverfahren zu verweisen und dieses Verfahren nach § 363 Abs. 2 S. 1 AO ruhen zu lassen.

 

Rz. 28

Durch Art. 17 des Gesetzes v. 12.12.2008, BStBl I 2009, 124 ist in S. 2 Nr. 4 die Möglichkeit geschaffen worden, die Steuerfestsetzung auch wegen eines Musterverfahrens beim BFH hinsichtlich der Auslegung einfachen Bundesrechts vorläufig vorzunehmen. Die Neuregelung ist am 1.1.2009 in Kraft getreten und betrifft damit alle Verwaltungsentscheidungen, d. h. Steuerfestsetzungen und Einspruchsentscheidungen, ab diesem Zeitpunkt. Vor der Neuregelung bestand keine Möglichkeit, die Steuerfestsetzung wegen eines einfachgesetzlichen Musterverfahrens vor dem BFH vorläufig vorzunehmen. Möglich war nur, nach Einlegung eines Einspruchs das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 S. 1 AO anzuordnen. Zur Einführung der Nr. 2a, der eine Vorläufigkeit ermöglicht, wenn sich aus einer Entscheidung des EuGH die Notwendigkeit einer Neuregelung ergeben kann, Rz. 41a.

 

Rz. 29

Für den Grund für die Tatbestände des Abs. 1 S. 2 ist zwischen den Tatbeständen des Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis Nr. 2a einerseits und Nr. 3 und Nr. 4 andererseits zu unterscheiden. Bei den Tatbeständen des Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 2a ist es sicher oder es steht mit gewisser Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass sich das Recht, das auf den in der Vergangenheit verwirklichten Sachverhalt anzuwenden ist, mit rückwirkender Kraft ändern wird. Es liegen also keine Rechtsfragen vor, die mit Mitteln der Auslegung zu lösen wären; vielmehr sind konstitutive Rechtsänderungen zu erwarten. I. d. R. werden diese Rechtsänderungen für den Stpfl. günstig sein, bei dem Tatbestand des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AO ist dies sogar Voraussetzung. Da die Finanzverwaltung trotz der zu erwartenden Gesetzesänderung an das im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung noch geltende Recht gebunden ist, müsste sie die Steuerfestsetzung ohne die zu erwartenden rückwirkenden Rechtsänderungen vornehmen. Ein Abwarten bis zum Ergehen dieser Rechtsänderungen könnte zum Ablauf der Festsetzungsfrist führen. In dieser Situation ist die Vorläufigkeit eine angemessene Lösung.

 

Rz. 30

Bei den...

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