Rz. 80

§ 164 AO schließt die Bestandskraft der Steuerfestsetzung in weitem Umfang aus, da die Finanzbehörde den Steuerbescheid während der Wirksamkeit des Vorbehalts ändern kann, ohne dass zusätzliche Voraussetzungen vorliegen müssen.[1] Die Finanzbehörde darf den Steuerbescheid aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen zugunsten wie zulasten des Stpfl. aufheben oder ändern.[2] Dabei dürften in der Regel ein neu bekanntgewordener Sachverhalt oder eine geänderte rechtliche Beurteilung Anlass einer Änderung sein; sie sind aber nicht Voraussetzung einer Änderung. Es ist demnach nicht erforderlich, dass die Finanzbehörde vor der Änderung eine (weitere) Überprüfung des Steuerfalls in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht vornimmt, insbesondere keine Außenprüfung durchführt.[3] Sie darf ihre Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts vielmehr auch bei einer Änderung nach § 164 Abs. 2 AO bis zur abschließenden Prüfung des Steuerfalls zurückstellen.[4]

Ferner darf die Finanzbehörde auch bei einer Änderung nach § 164 Abs. 2 AO ihr bereits bekannte Tatsachen oder erkennbare Umstände zunächst unberücksichtigt lassen und erst später zulasten des Stpfl. berücksichtigen.[5] Der Stpfl. kann im Rahmen des Vorbehalts auch Wahlrechte und sonstige Antragsrechte neu ausüben, sofern die Frist zur Wahlrechtsausübung nach dem jeweiligen Einzelsteuergesetz noch nicht abgelaufen ist.[6] So kann der Stpfl. die Berücksichtigung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG oder des ermäßigten ESt-Satzes nach § 34 Abs. 3 EStG im Rahmen eines Änderungsantrags nach § 164 Abs. 2 AO beantragen.[7]

Die Voraussetzungen für eine Bilanzänderung richten sich demgegenüber allein nach § 4 Abs. 2 S. 2 EStG. § 164 Abs. 2 AO ermöglicht lediglich die verfahrensrechtliche Änderung, nicht aber eine voraussetzungslose Bilanzänderung.[8]

Die Änderungsmöglichkeit erfasst den ganzen Steuerbescheid, ist also nicht nur punktuell. Die Änderungsmöglichkeit nach § 164 Abs. 2 AO geht damit wesentlich weiter als die nur unter bestimmten Voraussetzungen möglichen und punktuell wirkenden Änderungsmöglichkeiten der §§ 172ff. AO. § 164 Abs. 2 AO verdrängt daher die Änderungstatbestände der §§ 172175 AO.[9]

 

Rz. 81

Entgegen dem Wortlaut des § 164 Abs. 2 S. 1 AO, wonach die Finanzbehörde die Steuerfestsetzung aufheben oder ändern "kann", steht die Aufhebung oder Änderung nicht im Ermessen[10] der Finanzbehörde.[11] Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung gebietet es vielmehr, dass die Finanzbehörde einen rechtswidrigen Steuerbescheid ändert oder aufhebt, sodass der Ermessensspielraum auf Null reduziert ist. Dem können Erwägungen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht entgegenstehen, weil § 164 AO grundsätzlich den Eintritt materieller Bestandskraft und damit die Entstehung schutzwürdigen Vertrauens hindert.

 

Rz. 82

In sachlicher Hinsicht, also hinsichtlich des sachlichen Regelungsbereichs der Steuerfestsetzung[12], unterliegt die Änderung keiner Grenze, da die materielle Bestandskraft ausgeschaltet ist. Die Finanzbehörde kann also, solange der Vorbehalt besteht, den Steuerfall jederzeit aufgreifen, überprüfen und die Steuerfestsetzung zugunsten oder zuungunsten des Stpfl. ändern. Es kann auch eine mehrfache Änderung erfolgen.[13] Eine Bindung an vorher geäußerte Rechtsansichten besteht nicht, und zwar weder für die Finanzbehörde noch für den Stpfl.[14] Der Umfang der möglichen Änderung ist grundsätzlich nicht eingeschränkt, und zwar auch dann nicht, wenn in dem unter Vorbehalt stehenden Bescheid auf fehlende Unterlagen oder unklare Sachverhalte hingewiesen wird. Darin liegt keine Begrenzung des sachlichen Umfangs des Vorbehalts der Nachprüfung.[15]

 

Rz. 83

Die Änderung zugunsten des Stpfl. ist nicht von einem Antrag nach Abs. 2 S. 2 abhängig.[16] Die Änderung der Steuerfestsetzung unterliegt also nicht den Einschränkungen der §§ 172ff. AO. Es können auch Rechtsfehler über die sonst nach § 177 AO bestehenden Einschränkungen unbegrenzt geändert werden.[17] § 177 AO ist also im Rahmen des § 164 AO gegenstandslos. Wegen des sachlich nicht eingegrenzten Änderungsrahmens nach § 164 AO ergibt sich daher kein Anwendungsbereich des § 177 AO.

Ebenso stehen einer Anfechtung der nach § 164 Abs. 2 AO geänderten Steuerbescheide die Vorschriften des § 42 FGO und des § 351 Abs. 1 AO nicht entgegen, da die unter dem Vorbehalt stehenden geänderten Bescheide einer materiellen Bestandskraft nicht fähig sind.[18] Dies gilt auch, wenn der Vorbehalt mit dem Änderungsbescheid aufgehoben wird.[19]

 

Rz. 84

Die Änderung der Steuerfestsetzung ist auch nicht durch § 173 Abs. 2 AO ausgeschlossen, selbst wenn der Tatbestand dieser Vorschrift vorliegt. Die Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO ist seinem Wortlaut nach nur bei einer Änderung nach § 173 AO anwendbar, nicht bei einer Änderung nach § 164 Abs. 2 AO.[20] Der Gesetzgeber hat die Änderungsmöglichkeit nach § 164 Abs. 2 AO auch nicht auf Fälle der Steuerhinterziehung und oder leichtfertigen Steuerverkürzung beschränkt. Ebenso scheidet eine an...

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