Rn. 61

Stand: EL 157 – ET: 04/2022

Bei rückwirkenden Gesetzen unterscheidet das BVerfG in st Rspr zwischen

 

Rn. 62

Stand: EL 157 – ET: 04/2022

Echte Rückwirkung entfaltet eine Rechtsnorm dann, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift (vgl BVerfG v 23.03.1960, 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 139,145 f; BVerfG v 23.03.1971, 2 BvL 2/66, 2 BvR 168/66, 2 BvR 196/66, 2 BvR 197/66, 2 BvR 210/66 ua, BVerfGE 30, 367, 386; BVerfG v 23.11.1999, 1 BvF 1/94, BVerfGE 101, 239, 263; BVerfG v 10.06.2009, 1 BvR 706/08, 1 BvR 814/08, 1 BvR 819/08, 1 BvR 832/08, 1 BvR 837/08, BVerfGE 123, 186, 257; BVerfG v 10.10.2012, 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302, 318; BVerfG v 17.12.2013, 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1, 13). Eine solche "Rückbewirkung von Rechtsfolgen", vgl BVerfG v 07.07.2010, 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1, 6 f, ist dann gegeben, wenn die Rechtsfolge der Rechtsnorm mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Eine echte Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen) liegt im Sachbereich des Steuerrechts nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert, BVerfG v 25.03.2021,1 BvL 1/11, BFH/NV 2021, 1054.

 

Rn. 62a

Stand: EL 157 – ET: 04/2022

Eine echte Rückwirkung ist nach der Rspr des BVerfG nur in bestimmten Fällen zulässig, so zB wenn

  • der Bürger mit einer Neuregelung rechnen musste, BVerfG v 15.10.1996, 1 BvL 44/92, 1 BvL 48/92, BVerfGE 95, 118 betreffend Mietpreisbildung, die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste (oder wenn das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden, BVerfG v 17.12.2013, 1 BvL 5/08 , BVerfGE 135, 1;
  • der Normgeber eine nichtige Bestimmung rückwirkend durch eine rechtlich nicht zu beanstandende Norm ersetzt, BVerfG v 03.09.2009, 1 BvR 2384/08, BFH/NV 2010, 154;
  • überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung des bisherigen Rechts erfordern, BVerfG v 17.12.2013, 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1;
  • der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte (vgl BVerfGE 101, 239, 263; BVerfGE 122, 374, 394f);
  • durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (sogenannter Bagatellvorbehalt, vgl BVerfGE 72, 200, 258;
  • ein formell verfassungswidriges Gesetz formell ordnungsgemäß mit Rückwirkung neu beschlossen wird, Kanzler in Kanzler/Kraft/Bäuml/Marx/Hechtner/Geserich, § 52 EStG Rz 7 (6. Aufl).
 

Rn. 63

Stand: EL 157 – ET: 04/2022

Unechte Rückwirkung entfaltet eine Rechtsnorm hingegen dann, wenn sie auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet (vgl BVerfG v 23.11.1999, 1 BvF 1/94, BVerfGE 101, 239, 263; BVerfG v 10.06.2009, 1 BvR 706/08, 1 BvR 814/08, 1 BvR 819/08, 1 BvR 832/08, 1 BvR 837/08, BVerfGE 123, 186, 257; BVerfG v 10.10.2012, 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302, 318), die Rspr zusammenfassend vgl dazu BVerfG v 05.03.2018, 1 BvR 2864/13, NVwZ 2018, 972.

Soweit belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden ("tatbestandliche Rückanknüpfung"), liegt eine "unechte" Rückwirkung vor, BVerfG v 07.07.2010, 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1). Das Urteil des BFH v 11.04.2018, I R 34/15, BFH/NV 2019, 77 Rz 35 führt dazu Folgendes aus:

Zitat

"Eine solche unechte Rückwirkung ist nicht grundsätzlich unzulässig, denn die Gewährung vollständigen Schutzes zu Gunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage würde den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen, BVerfG v 10.10.2012, 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht insbesondere nicht so weit, den Staatsbürger vor jeder Enttäuschung zu bewahren (vgl BVerfG v 10.04.1984, 2 BvL 19/82, BVerfGE 67, 1; BVerfG v 30.09.1987, 2 BvR 933/82, BVerfGE 76, 256). Soweit nicht besondere Momente der Schutzwürdig...

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