Ergänzender Hinweis: Nr. 104 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 104)

 

Rz. 29

[Autor/Stand] Einer der besonders charakteristischen Unterschiede zum Strafverfahren besteht darin, dass die Verfolgungsbehörden im Bußgeldverfahren nicht dem Legalitätsprinzip (s. § 385 Rz. 62, 123), sondern dem Opportunitätsprinzip unterworfen sind (§ 47 OWiG ). Diese wichtige Prozessmaxime bedeutet zunächst, dass die Einleitung des Verfahrens anders als beim Legalitätsprinzip im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörden liegt und dass diese das Bußgeldverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen wieder einstellen können (§ 47 Abs. 1 OWiG). Bei Steuerordnungswidrigkeiten besteht mithin kein Verfolgungszwang. Die Verfolgungsbehörde (FinB, StA) schreitet bei Steuerordnungswidrigkeiten nur ein, "wenn ihr eine Ahndung notwendig erscheint, um die durch die verletzte Norm geschützten Ordnungswerte gegenüber diesem oder anderen Tätern durchzusetzen"[2]. Diese Regelung trägt dem geringen Unrechtsgehalt der Ordnungsverstöße Rechnung (grundlegend zum Unterschied von Kriminal- und Ordnungsunrecht s. vor § 377 Rz. 6 ff.).

 

Rz. 30

[Autor/Stand] Ist das Bußgeldverfahren bei einem Gericht anhängig und hält dieses eine Ahndung nicht für geboten, so kann das Gericht – ebenfalls als Ausfluss des Opportunitätsprinzips – das Verfahren mit Zustimmung der StA einstellen (§ 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG). Hierbei ist allerdings die FinB zu hören (§ 407 Abs. 1 Satz 2 AO i.V.m. § 410 Abs. 1 Nr. 11 AO). Die Zustimmung der StA ist entbehrlich bei einer Geldbuße bis zu 100 EUR und bei erklärtem Verzicht der StA auf Teilnahme an der Hauptverhandlung (§ 47 Abs. 2 Satz 2 OWiG[4]). Die Verfolgung und Ahndung einer Steuerordnungswidrigkeit unterliegt also in allen Abschnitten des Verfahrens (einschl. des gerichtlichen Bußgeld- oder Strafverfahrens) dem pflichtgemäßen Ermessen der für den jeweiligen Verfahrensabschnitt zuständigen Verfolgungs- bzw. Ahndungsbehörde, soweit sie die Dispositionsbefugnis über das Verfahren hat[5].

 

Rz. 31

[Autor/Stand] Die Entscheidung der Verfolgungsbehörde, das Bußgeldverfahren wegen einer Steuerordnungswidrigkeit einzuleiten oder einzustellen, muss nach pflichtgemäßem Ermessen erfolgen. Eine befriedigende Definition dieses Begriffs gibt es nicht. Auch hat der Gesetzgeber bewusst darauf verzichtet, die Voraussetzungen und Grenzen dieses Ermessens festzulegen[7]. Aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich aber immerhin, dass § 47 OWiG die Verfahrensweise nicht in das Belieben der Verfolgungsbehörden und Gerichte stellt. Diese haben vielmehr ihre Entscheidung im Einzelfall danach zu treffen, welche Bedeutung und Auswirkung die Tat hat, ob Wiederholungsgefahr besteht, wie häufig derartige Gesetzesverstöße sind, welches Verhalten der Betroffene nach der Tat an den Tag legt, wie stark sein Verschulden ist und welcher Zweck mit der Ahndung verfolgt wird[8]. Die Verfolgungsbehörde darf somit im Bußgeldverfahren gem. § 47 OWiG Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen, die sich zum Teil mit den in den §§ 153 ff. StPO genannten Gründen (s. § 385 Rz. 559 ff.) decken, zum Teil jedoch darüber hinausgehen.

 

Beispiel

Die FinB darf von der Verfolgung einer Steuerordnungswidrigkeit absehen, wenn die Ermittlung infolge Personalknappheit dazu führen könnte, das Verfahren bei bedeutsameren Verstößen gegen Steuergesetze zu beeinträchtigen[9].

Pflichtgemäß ist die Ermessensausübung gem. § 47 OWiG nach allem nur dann, wenn sich die Behörde von sachlichen Erwägungen der eben genannten Art leiten lässt (vgl. dazu Nr. 104 Abs. 2 AStBV (St) 2020; s. AStBV Rz. 104). Dadurch sollen willkürliche Entscheidungen verhindert werden. Willkür läge z.B. vor, wenn das Verfahren mit Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung des Betroffenen (Partei- oder Religionszugehörigkeit) oder aus persönlicher Sympathie oder Antipathie eingestellt würde. Unzulässig ist es auch, wenn die FinB/das Gericht die Einstellung des Verfahrens von der Zahlung eines Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung abhängig machte (§ 47 Abs. 3 OWiG)[10].

Aus dem von der Behörde ebenfalls pflichtgemäß zu beachtenden Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) folgt, dass die FinB gleichgelagerte Fälle von Steuerordnungswidrigkeiten gleich behandeln muss. Allerdings soll ein Betroffener nicht unter Hinweis auf den Gleichheitssatz die Einstellung des Verfahrens verlangen können, wenn in einem gleichen Fall die FinB von einer Verfolgung abgesehen hat[11].

 

Beispiel

Bei der FinB geht eine Anzeige ein, wonach B unrichtige Belege ausgestellt haben soll, die S mit seinem Antrag auf Einkommensteuerveranlagung eingereicht hat (bzgl. B Steuerordnungswidrigkeit gem. § 379 Abs. 1 Nr. 1 AO). Die FinB leitet daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen B ein. Als dieser davon erfährt, verlangt er sofortige Einstellung des Verfahrens, weil die FinB – was zutrifft – in den vorausgegangenen Jahren bei ähnlichen gegen ihn gerichteten Anzeigen nichts unternommen habe. Dieser Hinweis des B geht fehl, da eine "Selbstbindung" der FinB aufgrund des Art. 3 GG nicht ein...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge