Rz. 10

[Autor/Stand] Aus der Entstehungsgeschichte und dem Wortlaut des § 396 Abs. 1 AO ("kann") folgt unzweifelhaft, dass das Strafgericht heute zwar ermächtigt, aber nicht mehr verpflichtet ist, das Strafverfahren bis zur Klärung steuerrechtlicher Vorfragen auszusetzen. Nach dem Fortfall jeglicher Bindung an Entscheidungen des obersten Steuergerichts und jeglicher Verpflichtung, dieses in bestimmten Fällen anzurufen (s. Rdnr. 2 ff.), hat das Strafgericht nunmehr auch hinsichtlich steuerrechtlicher Fragen eine uneingeschränkte "Vorfragenkompetenz"[2]. Danach steht es dem Strafrichter frei, eine vollständige Überprüfung und Bewertung der für das Steuerstrafverfahren relevanten Fragen des materiellen Steuerrechts vorzunehmen. Aber selbst wenn das Strafgericht von § 396 AO Gebrauch gemacht und das Strafverfahren zunächst ausgesetzt hat, um die im Besteuerungsverfahren ergehende Entscheidung abzuwarten, bleibt es dem Gericht unbenommen, von dieser Entscheidung abzuweichen. Selbst von einem rechtskräftig abgeschlossenen Besteuerungsverfahren geht mithin keine Bindungswirkung für die weitere Behandlung im Strafverfahren aus[3].

 

Rz. 11

[Autor/Stand] Dieses Ergebnis trägt dem allgemeinen Grundsatz Rechnung, dass die Strafgerichte unabhängig, frei von jeder Bindung an andere Staatsorgane sowie allein dem Gesetz unterworfen sind (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG iVm. § 1 GVG). So entscheidet der Strafrichter im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) grds. selbst nach den für das Verfahren in Strafsachen geltenden Vorschriften über Vorfragen aus allen anderen Rechtsgebieten[5]. Dabei ist der Strafrichter auch nicht an Präjudizien gebunden bzw. diese entbinden ihn gerade nicht von der Verpflichtung, Entscheidungen der FinB oder des FG nicht ohne eigene Überprüfung zu übernehmen[6]. Die heute geltende Fassung des § 396 AO verschafft jenen Grundsätzen gegenüber den mit den früher geltenden Regelungen (§§ 433, 468 RAO) verbundenen Einschränkungen mithin uneingeschränkte Geltung.

 

Rz. 12

[Autor/Stand] Diese uneingeschränkte Vorfragenkompetenz des Strafgerichts birgt allerdings die Gefahr, dass ein Stpfl. zwar wegen vollendeter Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt wird, die Finanzgerichtsbarkeit aber einen Steueranspruch in dem parallel laufenden Besteuerungsverfahren verneint oder jedenfalls die Steuerrechtslage anders beurteilt als die Strafjustiz[8]. Häufiger tritt aber die umgekehrte Fallkonstellation ein, in der die Strafgerichte zu einem Freispruch kommen, die FG hingegen das Vorliegen einer Steuerstraftat bejahen und die steuerlichen Konsequenzen aus dem Sachverhalt ziehen[9]. So entschied etwa das FG Köln, die FinB sei nicht durch § 173 Abs. 2 AO gehindert gewesen, Umsatzsteuerbescheide trotz vorhergehender Außenprüfung zum Nachteil des Stpfl. zu ändern, weil dem Stpfl. zumindest eine leichtfertige Steuerverkürzung vorzuwerfen sei[10]. Dem ging ein Freispruch durch den Strafsenat des BGH[11] voraus, dem das FG Köln keine weitere Bedeutung beimaß. Derart einander widersprechende Entscheidungen verschiedener Gerichte sind misslich und geeignet, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beeinträchtigen. Der heutige Regelungsgehalt des § 396 AO birgt mithin die Gefahr divergierender Entscheidungen zwischen dem Steuerstrafverfahren und dem Besteuerungsverfahren.

[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand: 01.08.2017
[2] Hellmann in HHSp., Rdnr. 10; Nikolaus in Schwarz/Pahlke, Rdnr. 1a; Jäger in JJR8, Rdnr. 5.
[3] BayObLG v. 3.3.2004 – 4 St RR 8/2004, wistra 2004, 239; Jäger in Klein13, Rdnr. 8.
[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand: 01.08.2017
[5] Jäger in JJR8, Rdnr. 5.
[6] Zu Ausnahmen s. Kuckein in KK7, § 262 StPO Rdnr. 4 ff.
[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand: 01.08.2017
[8] Vgl. dazu die anschauliche Falldarstellung bei Bernsmann, FS Kohlmann, S. 377 f.; dieses Problem sehen auch Jäger in JJR8, Rdnr. 5; Seipl in Beermann/Gosch, Rdnr. 4; Nikolaus in Schwarz/Pahlke, Rdnr. 2.
[9] Mellinghoff, Stbg 2014, 97 (103).
[10] FG Köln v. 30.1.1985 – I (VI) 589–593/80, NJW 1986, 2529.
[11] BGH v. 20.5.1981 – 2 StR 784/80, NJW 1981, 2071.

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