Leitsatz

Bestehen für das Herkunftsland eines Unions­bürgers während einer Übergangszeit nach dem Beitritt zur Europäischen Union Beschränkungen hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, so unterfällt der Unionsbürger nur dann nicht § 62 Abs. 1 EStG, sondern den einschränkenden Regelungen des § 62 Abs. 2 EStG, wenn die zuständige Ausländerbehörde Maßnahmen ergriffen hat, durch die der Unionsbürger anstelle der Regelungen des FreizügG/EU den Regelungen des AufenthG unterworfen wird.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 1, Abs. 2 EStG, § 74 FGO, Art. 21, 45 AEUV, § 5, § 6, § 11, § 13 FreizügG/EU, § 284 SGB III

 

Sachverhalt

Der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, war in den Jahren 2007 bis 2011 für eine polnische Baufirma als Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt. Er beantragte erfolglos Kindergeld. Das anschließende Klageverfahren wurde nach § 74 FGO ausgesetzt (FG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 7.10.2014, 6 K 2642/12). Zur Begründung führte das FG aus, dass der Kläger mangels Genehmigung der Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 SGB III a.F. als nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer i.S.d. § 62 Abs. 2 EStG zu behandeln sei. Da er die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG nach Aktenlage nicht erfülle, wäre sein Kindergeldanspruch bis April 2011 abzulehnen, sofern sich diese Vorschrift in dem beim BVerfG anhängigen Verfahren 2 BvL 9‐14/14 als verfassungsgemäß erweisen sollte.

 

Entscheidung

Da sich die verfassungsrechtliche Streitfrage der beim BVerfG anhängigen Verfahren im vorliegenden Verfahren nicht stellt, führte die Beschwerde des Klägers zur Aufhebung des FG-Beschlusses. Das dortige Verfahren ist fortzusetzen.

 

Hinweis

1. Nach § 74 FGO kann das Gericht das Verfahren aussetzen, wenn die zu treffende Entscheidung ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Eine Aussetzung ist nach der BFH-Rechtsprechung u.a. dann geboten, wenn vor dem BVerfG ein nicht aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist und keiner der Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes ­Interesse daran hat, dass trotzdem schnell entschieden wird. Die Aussetzung setzt weiter voraus, dass die Sachverhalte hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleich gelagert sind.

2. Die aufgrund der Vorlagebeschlüsse des FG Niedersachsen (EFG 2014, 932) beim BVerfG anhängigen Verfahren 2 BvL 9‐14/14 betreffen die Frage, ob § 62 Abs. 2 EStG insoweit verfassungswidrig ist, als er nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer teilweise vom Anspruch auf Kindergeld ausschließt oder dessen Gewährung an weitere Voraussetzungen knüpft.

3. Polnische Staatsbürger waren in dem hier streitigen, im April 2011 endenden Zeitraum bereits freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und damit bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG dem Grunde nach kindergeldberechtigt. Sie hatten wie alle Unionsbürger das unmittelbar anwendbare subjektiv-öffentliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 21 Abs. 1 AEUV, früher: Art. 18 EG).

4. Dem steht nicht entgegen, dass die Übergangsregelungen für die 2004 der EU beigetretenen Mitgliedstaaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien und Ungarn in Deutschland noch in Kraft waren und keine volle Arbeitnehmerfreizügigkeit herrschte. Deutschland hat den Zugang für Staatsangehörige Polens bis zum 30.4.2011 gemäß § 284 Abs. 1 SGB III dahin gehend beschränkt, dass diese eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit ausüben dürfen.

5. Das Fehlen dieser Genehmigung bewirkt aber nicht, dass ein Pole als nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer gemäß § 62 Abs. 2 EStG anzusehen ist. Das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger ent­fällt erst, sobald die Ausländerbehörde nach §§ 5, 6 FreizügG/EU festgestellt hat, dass das Recht ­auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht besteht. Die förmliche Feststellung obliegt allein den Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten und nicht Familienkassen und Finanzgerichten. Erst nach einer entsprechenden Feststellung findet das Aufenthaltsgesetz Anwendung, sodass der Unionsbürger einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz benötigt, wenn er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten will.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 27.4.2015 – III B 127/14

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