Rz. 464
§ 8b Abs. 4 KStG wurde eingeführt, um die Europarechtswidrigkeit der bestehenden Rechtslage zu beseitigen.[1] Grenzüberschreitende Ausschüttungen sind aber nicht nur an der Kapitalverkehrsfreiheit, sondern auch an der Mutter-Tochter-Richtlinie als Sekundärrecht zu messen. Jede nationale Regelung muss daher die Vorgaben der Mutter-Tochter-Richtlinie umsetzen, um nicht wiederum das EU-Recht zu verletzen. Der nationale Gesetzgeber hat nur dann einen Gestaltungsspielraum, wenn entweder der Sachverhalt nicht von der Mutter-Tochter-Richtlinie erfasst ist oder diese den Mitgliedstaaten insoweit ein Wahlrecht einräumt.
Rz. 465
Die Mutter-Tochter-Richtlinie erlaubt im Rahmen des Freistellungsverfahrens eine Ausnahme für Streubesitzdividenden. Eine Ausschüttung ist nur dann freizustellen, wenn eine Beteiligung von mindestens 10 % vorliegt. Indem Dividenden nach bisheriger Rechtslage unabhängig von der Beteiligungshöhe bei der Empfängerkörperschaft nicht besteuert wurden, ist die deutsche Regelung daher über das nach der Mutter-Tochter-Richtlinie Erforderliche hinausgegangen. Damit verstößt eine Besteuerung von Dividenden aus Streubesitzbeteiligungen nicht per se gegen die Mutter-Tochter-Richtlinie.
Rz. 466
Nicht ausdrücklich geregelt ist in der Mutter-Tochter-Richtlinie, zu welchem Zeitpunkt die Beteiligung bestehen muss. Denkbar sind der Beginn des Wirtschaftsjahrs, der Beginn des Kalenderjahrs und der Ausschüttungszeitpunkt als mögliche Anknüpfungszeitpunkte für die Steuerfreistellung. Das Ziel der Richtlinie, die Steuerfreiheit einer Ausschüttung sicherzustellen, spricht m. E. dafür, auf den Ausschüttungszeitpunkt abzustellen.[2] Dieser Auffassung scheint auch der Gesetzgeber zu folgen. § 43b EStG, der die Mutter-Tochter-Richtlinie umsetzt, fordert in Abs. 2 S. 1 ausdrücklich eine qualifizierte Beteiligung zum Zeitpunkt der Entstehung der KapESt. Damit muss die Beteiligung im Zuflusszeitpunkt, d. h. im Ausschüttungszeitpunkt, vorliegen. Indem § 8b Abs. 4 KStG auf den Beginn des Kalenderjahrs abstellt, verstößt er gegen die Mutter-Tochter-Richtlinie.
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