Rz. 19b

Die Verlegung des Sitzes und/oder der Geschäftsleitung in das Ausland zieht Steuerfolgen nach sich, die eine solche Maßnahme praktisch verbieten. Damit wird es einer Körperschaft fast unmöglich gemacht, ihre Geschäftsleitung in einen anderen EU-Staat zu verlegen und ihr Recht der Niederlassungsfreiheit (vgl. Art. 43 EGV) ohne prohibitive steuerliche Belastung wahrzunehmen. § 12 Abs. 1 schränkt daher die Niederlassungsfreiheit ein. Es fragt sich, ob dafür rechtfertigende Gründe bestehen. Regelungsgrund für § 12 Abs. 1 ist die Sicherung der Besteuerung von in der Bundesrepublik steuerverstrickten stillen Reserven. Es ist ein die Einschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigender Grund, wenn der Staat Regelungen ergreift, die verhindern, dass nach nationalem Recht und internationalen Zuteilungsnormen in der ­Bundesrepublik steuerlich verstrickte Wirtschaftsgüter bzw. stille Reserven nicht durch einfache Maßnahmen der deutschen Besteuerung entzogen werden können.

Dies ergibt sich im Ergebnis auch aus dem EuGH-Urteil v. 27.9.1988 (Rs 81/87, Slg. 1988, 5483 — Daily Mail). In diesem Fall wollte ein britisches Unternehmen seine Geschäftsleitung in die Niederlande verlegen, um dort von den günstigeren steuerlichen Bestimmungen für die Veräußerung von umfangreichem Aktienbesitz zu profitieren. Nach britischem Recht war hierzu eine Genehmigung des Finanzministeriums er­forderlich, die verweigert wurde. Der EuGH sah hierin keinen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit und führte aus, dass Gesellschaften außerhalb der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und Existenz regeln, keine Realität hätten. Angesichts der Unterschiede zwischen den nationalen Regelungen könne das Problem der Sitzverlegung nicht durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit gelöst werden; es sei vielmehr eine Lösung durch Rechtsetzung oder Vertragsschluss erforderlich, an der es fehle. Damit gebe der EGV einer Gesellschaft nicht das Recht, ihre Geschäftsleitung unter Wahrung ihrer Eigenschaft als juristischer Person aus dem Staat der Gründung in einen anderen Staat zu verlegen.

Daraus folgt, dass der Staat der Gründung der Gesellschaft an die Sitzverlegung ungünstige steuerliche Folgerungen, also auch eine Schlussbesteuerung i.S.d. § 12 Abs. 1, knüpfen darf, da er die Sitzverlegung auch schlechthin verbieten kann. Hieraus ergibt sich weiter, dass eine Anwendung der Vorschrift auf Sachverhalte, bei denen eine Steuerentstrickung nicht droht, nicht durch das Interesse am Schutz des inländischen Steueraufkommens gerechtfertigt werden kann. Das betrifft die Fälle, in denen die Wirtschaftsgüter trotz Verlegung des Sitzes und damit verbundenem Ende der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland steuerverstrickt bleiben (vgl. Rz. 12), etwa weil im Inland verbleibende Wirtschaftsgüter eine Betriebsstätte bilden oder Grundstücke im Inland belegen sind, sodass das deutsche Besteuerungsrecht, jetzt in der Form der beschränkten Steuerpflicht, erhalten bleibt. In diesen Fällen wäre eine Anwendung des § 12 Abs. 1 eine durch das Interesse des Staates nicht gerechtfertigte Einschränkung der Niederlassungsfreiheit.

Soweit danach eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit durch das staatliche Interesse am Steueraufkommen gerechtfertigt ist, stellt sich als weitere Frage, ob Art und Umfang dieser Einschränkung angesichts der Bedeutung der Niederlassungsfreiheit einerseits und der des staatlichen Interesses andererseits geeignet, notwendig und angemessen sind. Hier begegnen insbesondere die Angemessenheit und Notwendigkeit Zweifeln. Angemessen und notwendig ist eine Einschränkung der Grundfreiheit nämlich nur dann, wenn kein anderes, die Grundfreiheiten weniger einschränkendes Mittel ersichtlich ist, welches das staatliche Besteuerungsinteresse schützen kann. Das ist aber der Fall.

Soweit die steuerverstrickten Wirtschaftsgüter, ohne eine Betriebsstätte zu bilden, im Inland verbleiben, kann das staatliche Besteuerungsinteresse dadurch gewahrt werden, dass diese Wirtschaftsgüter steuerlich überwacht werden und die inländische Besteuerung im Falle der Veräußerung dieser Wirtschaftsgüter die bis zur Entstrickung entstandenen stillen Reserven erfasst. Für im Ausland belegene Wirtschaftsgüter, für die vor der Sitzverlegung ein deutsches Besteuerungsrecht bestand, kann eine entsprechende Regelung angewandt werden. Etwaige Schwierigkeiten bei der Überwachung oder Bewertung rechtfertigen die Einschränkung der Grundfreiheiten nicht, da z. B. eine gesonderte Feststellung der insoweit verstrickt bleibenden stillen Reserven auf den Zeitpunkt der Sitzverlegung möglich ist. Insbesondere die Behandlung des Strukturwandels zur Liebhaberei (vgl. die entsprechende Regelung für den Fall des Übergangs zur Liebhaberei in § 8 der VO zu § 180 AO; Frotscher, in Schwarz, AO, § 180 Rz. 178ff.) beweist, dass Regelungen denkbar sind, die eine mit dem deutschen Steuersystem kohärente Lösung ermöglichen und das staatliche Besteuerungsinteresse schützen, ohne die Niederlassungsf...

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