Rz. 54

In der Praxis ist es häufig anzutreffen, dass der Erbfall ernstliche Zweifel und daraus folgenden Streit darüber auslöst, ob und in welchem Umfang (namentlich streitige Bewertungsfragen)[1] ein Erwerb von Todes wegen vorliegt (z. B. bei Anfechtung eines Testaments). Handelt es sich um eine Verfügung von Todes wegen, kann es zwischen den Beteiligten leicht zu Streit über die zutreffende Auslegung derselben kommen.

 
Praxis-Beispiel

Der verwitwete Erblasser hat aus 2. Ehe 2 Söhne, nämlich den älteren Sohn E und den jüngeren Sohn X. Außerdem hat er noch einen Sohn S aus 1. Ehe. Testamentarisch hat der Erblasser seinen "ältesten Sohn" als Alleinerben eingesetzt. Sohn S macht geltend, im Wege der Auslegung gelange man zu dem Ergebnis, dass sein Vater ihn und nicht den E bei der Erbeinsetzung im Auge gehabt habe. Sohn E trägt demgegenüber vor, es sprächen eindeutige Indizien dafür, dass der Vater allein an ihn gedacht habe. E einigt sich mit S später dahingehend, dass E als Erbe gelten soll und von S die (mögliche) Erbschaft gegen eine Abfindungszahlung übertragen bekommt.

 

Rz. 55

Zivilrechtlich können sich die Beteiligten nach dem Erbfall durch einen sog. Auslegungsvertrag über die Auslegung einer Verfügung von Todes wegen verbindlich einigen, allerdings nur mit schuldrechtlicher Wirkung bzw. unter Vornahme von Übertragungsgeschäften, wie etwa einer Erbteilsübertragung nach § 2033 Abs. 1 BGB.[2] Der Vertrag bedarf der notariellen Beurkundung.[3] Eine dingliche Wirkung kommt dem Auslegungsvertrag ebenso wenig zu wie einem Erbvergleich i. S. d. § 779 Abs. 1 BGB, mit dem die Parteien Streitigkeiten über die Ungewissheit der Erbrechtslage im Wege gegenseitigen Nachgebens beenden. Das subjektive Erbrecht, also die Stellung als Allein- oder Miterbe, kann schon deshalb nicht Gegenstand eines Auslegungsvertrags oder Vergleichs zwischen Erbprätendenten sein, weil es nur durch Gesetz oder Verfügung von Todes wegen begründet werden kann und der Anfall des Erbes sich unmittelbar aus dem Vermögen des Erblassers vollzieht. Deshalb kann eine vertragliche Vereinbarung über die Gültigkeit oder Auslegung eines nichtigen Testaments dieses nicht wirksam machen oder die seinem wirklichen Inhalt entsprechenden Rechtswirkungen abändern.[4] Entsprechende streitschlichtende Verträge sind also nur schuldrechtlicher Natur. Auslegungsverträge legen ihren schuldrechtlichen Verpflichtungen eine von mehreren denkbaren Auslegungsmöglichkeiten zugrunde und klammern ganz bewusst die Frage aus, welche der denkbaren Auslegungsmöglichkeiten tatsächlich der eingetretenen Erbfolge entspricht. Insoweit hat der Vertrag Vergleichscharakter.[5] Eine vergleichbare Situation besteht, wenn sich die Beteiligten über die Existenz eines Anfechtungsrechts oder Erbunwürdigkeitsgrunds streiten. Der Vertrag begründet für die eine Seite einen Anspruch auf Einräumung oder Verzicht einer entsprechenden Rechtsposition. Regelmäßig erhält der auf seine mögliche Rechtsposition gewährende oder verzichtende Beteiligte eine Abfindung. Soweit die schuldrechtliche Verpflichtung auf die Übertragung einer möglicherweise bereits angefallenen Erbschaft oder eines Erbteils gerichtet ist, liegt ein schuldrechtlicher Veräußerungsvertrag i. S. d. § 2385 BGB vor, der der notariellen Beurkundung nach § 2371 BGB bedarf.

 

Rz. 56

Erbschaftsteuerrechtlich stellt sich in den genannten Fällen das Problem, ob die Besteuerung nach der tatsächlichen – wenn auch gegenüber dem FA als Nachlassgläubiger noch klärungsbedürftigen – erbrechtlichen Situation vorzunehmen ist. Bezogen auf den Beispielsfall kommt es also darauf an, ob der Sohn E oder der Sohn S vom Vater zum Alleinerben eingesetzt worden ist.

 

Rz. 57

Unterstellt man im Beispielsfall, dass E der tatsächliche Erbe ist, ist auf ihn § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG anwendbar. Bezüglich der Abfindung stellt sich die Frage, ob einerseits S diese nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG versteuern muss und ob E die Abfindungszahlung als Nachlassverbindlichkeit nach § 10 Abs. 5 Nr. 3 ErbStG absetzen kann. Da S tatsächlich nicht Erbe geworden ist, käme eine freigebige Zuwendung nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG in Betracht. Bei ernsthafter Zweifelhaftigkeit der Erbrechtslage besteht jedoch die Situation eines begründeten Streits, bei dem die Beteiligten nicht das Bewusstsein haben, eine andere Person freiwillig und unentgeltlich zu bereichern. Von einer freigebigen Zuwendung könne nur dann die Rede sein, wenn die Beteiligten über die wahre Rechtslage gerade nicht im Unklaren waren und mit dem Erbvergleich der Abfindungsempfänger bereichert werden sollte.[6] Das Ergebnis stimmt im Übrigen damit überein, dass auch in anderen Situationen des § 779 Abs. 1 BGB eine freigebige unentgeltliche Zuwendung mit der Folge der Schenkungsteuer verneint wurde.[7] § 22 Nr. 3 EStG ist nicht einschlägig, weil der Verzicht auf ein (vermeintliches) Erbrecht in der privaten, nicht steuerbaren Vermögenssphäre anzusiedeln ist. Aus der Perspektive des Sohnes E wird man mit guten Gründen den Standpunkt...

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