Entscheidungsstichwort (Thema)

Sperrfrist für EU-Ausländer nach § 62 Abs. 1a EStG

 

Leitsatz (redaktionell)

Die dreimonatige Sperrfrist für zugezogene EU-Ausländer nach § 62 Abs. 1a EStG gilt dann nicht, wenn bereits vor Begründung des inländischen Wohnsitzes ein Kindergeldanspruch bestand.

 

Normenkette

VO 883/2004 Art. 67-68; DVO (EG) 987/2009 Art. 60; EStG § 62 Abs. 1a

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob einer Kindergeldfestsetzung die Vorschrift des § 62 Abs. 1a Sätze 1 und 2 Einkommensteuergesetz (EStG) entgegensteht.

Die Klägerin reiste mit ihren 2009 und 2017 geborenen Kindern F. und L. am 07.07.2020 aus Bulgarien nach Deutschland ein und hat seitdem ihren Wohnsitz im Inland. Sie ist seit Januar 2017 nicht erwerbstätig. Der Ehemann und Kindesvater lebte und arbeitete bereits seit Ende 2019 in Deutschland. Er erzielte (auch in Streitzeitraum Juli bis September 2020) aus einer Vollzeitbeschäftigung Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Alle Familienmitglieder sind bulgarische Staatsangehörige. Seit Juli 2020 leben sie in einem gemeinsamen Haushalt. Im Juli 2020 beantragte die Klägerin Kindergeld für ihre beiden Kinder. Der Kindesvater erklärte sich mit der Auszahlung an die Klägerin einverstanden. Bis Ende Juni 2020 hatte die Klägerin bulgarisches Kindergeld bezogen.

Mit Bescheid vom 01.09.2020 lehnte die Beklagte den Antrag für den Zeitraum Juli bis September 2020 ab und führte aus, in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union sowie des Europäischen Wirtschaftsraumes, deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern geregelt sei, könnten in den ersten drei Monaten nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, wenn sie laufende inländische Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit oder aus nichtselbständiger Arbeit erzielten. Diese Anspruchsvoraussetzungen hätten nicht festgestellt werden können. Für die Folgemonate wurde mit gesondertem Bescheid vom gleichen Tag Kindergeld festgesetzt.

Am 22.09.2020 legte die Klägerin Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid ein und führte aus: Ihr Ehemann sei seit Ende 2019 in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Deshalb sei der Leistungsausschluss in ihrem Fall falsch. Sie brauche als Familienangehörige keinen eigenen Arbeitnehmerstatus. Der Arbeitnehmerstatus ihres Ehemanns, mit dem sie und die (gemeinsamen) Kinder in häuslicher Gemeinschaft lebten, reiche aus.

Die Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 25.09.2020 als unbegründet zurück und führte aus: Nach dem Wortlaut des § 62 Abs. 1a EStG müsse der Antragsteller selbst inländische Einkünfte erzielen. Die Klägerin erziele aber keine Einkünfte.

Mit der dagegen gerichteten Klage verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Zwar seien die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a EStG dem Wortlaut nach erfüllt. Diese Vorschrift sei aber unionsrechtswidrig. Der generelle Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten ab Wohnsitznahme, sofern keine steuerpflichtigen Einkünfte erzielt würden, verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot und gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Die Regelung sei zudem widersprüchlich. Ihr Ehemann gehe einer Beschäftigung in Deutschland nach. Aus der europarechtlichen Koordinierungsrichtlinie zum Kindergeld ergebe sich, dass sie kindergeldberechtigt wäre, wenn sie weiterhin im Ausland leben würde. Insofern sei es nicht nachvollziehbar, dass bei einem Zuzug in das Inland ein dreimonatiger Leistungsausschluss greife.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 01.09.2020 und der Einspruchsentscheidung vom 25.09.2020 zu verpflichten, Kindergeld für die Kinder L. und F. für die Monate Juli bis September 2020 festzusetzen,

hilfsweise, das Verfahren bis zum Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit dem Az. C-411/20 ruhend zu stellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise, das Verfahren bis zum Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH mit dem Az. C-411/20 ruhend zu stellen.

Der Berichterstatter hat darauf hingewiesen, dass es möglicherweise nicht auf die Unionsrechtswidrigkeit ankomme. Auf das Schreiben vom 20.11.2020 wird Bezug genommen. Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die der Senat gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Kindergeld für die Monate Juli bis September 2020, § 101 Satz 1 FGO.

Wie zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig ist, liegen die Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs grundsätzlich vor. Allein streitig ist die Frage, ob § 62 Abs. 1a EStG den Anspruch ausschließt. Dies ist zu verneinen.

Nach § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat ein Staatsangehöriger eine...

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