Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeldanspruch einer in Deutschland wohnenden und erwerbstätigen EU-Ausländerin bei Haushaltsaufnahme des Kindes im Haushalt des von einer polnischen Arbeitsunfähigkeitsrente lebenden Kindesvaters in Polen

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Welchen Rechtsvorschriften eine Person bei grenzüberschreitenden Kindergeldsachverhalten unterliegt, bestimmt sich ab 1.5. 2010 nach Art. 11 ff. der VO (EG) Nr. 883/2004.

2. Einer in Deutschland wohnenden und als Arbeitnehmerin tätigen Staatsangehörigen eines anderen EU-Landes (hier: Polen) steht auch dann deutsches Kindergeld zu, wenn ihr Kind im Haushalt des getrennt lebenden Vaters in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebt (hier: Polen) und der Vater in diesem EU-Land eine Arbeitsunfähigkeitsrente und keine Familienleistungen bezieht; der Kindergeldanspruch der Kindesmutter wird weder nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG bzw. § 3 Abs. 2 S. 1 BKGG ausgeschlossen, wenn der Kindesvater nicht die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 62 Abs. 1 EStG bzw. § 1 Abs. 1 BKGG erfüllt, noch nach Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 58 ff. der VO (EG) Nr. 987/2009.

3. Ein Kindergeldanspruch des in Polen lebenden Kindesvaters ergibt sich auch nicht aus Art. 67 der VO (EG) Nr. 883/2004; der Kindesvater, der in Polen lebt und eine polnische Rente bezieht, unterliegt nach Art. 11, 67 Satz 2 der VO (EG) Nr. 883/2004 – unabhängig davon, wo in der EU er wohnt – den polnischen Rechtsvorschriften.

 

Normenkette

EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 64 Abs. 2 S. 1, § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EGV 883/2004 Art. 1 Buchst. z; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 1 Sätze 1-2; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. a; EGV 883/2004 Art. 67 S. 2; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 1 Buchst. a; EGV 987/2009 Art. 58; EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2; BKGG § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 2 S. 1

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 21.07.2016; Aktenzeichen V R 46/11)

BFH (Urteil vom 21.07.2016; Aktenzeichen V R 46/11)

 

Tenor

1. Der Bescheid der Familienkasse vom 27. Juli 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. September 2010 wird aufgehoben (mit der Folge des Wiederauflebens des Bescheids vom 14. März 2008).

2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

I.

Die in Deutschland lebende, im Angestelltenverhältnis erwerbstätige Klägerin ist die Mutter des am 26. August 1991 geborenen Kindes A., das im Haushalt des von der Klägerin

dauernd getrennt lebenden Kindsvaters in Polen lebt und eine Schule besucht. Der Kindsvater bezieht in Polen eine Arbeitsunfähigkeitsrente; Familienleistungen nach polnischem Recht bezieht er nicht.

Mit Bescheid vom 14. März 2008 hatte die Familienkasse Kindergeld vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) festgesetzt. Zur Begründung hieß es, der Kindergeldanspruch nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) sei unter Berücksichtigung der dem anderen Elternteil in Polen zustehenden Leistungen zu prüfen. Der andere Elternteil habe Anspruch auf Familienleistungen in Polen. Bei der Beurteilung des Anspruchs komme es nicht darauf an, ob die ausländischen Leistungen tatsächlich gezahlt würden oder mangels Antragstellung nicht gezahlt würden. Der Bruttobetrag der ausländischen Leistungen sei niedriger als das der Klägerin zustehende Kindergeld; der sich daraus ergebende Unterschiedsbetrag werde ab April 2008 vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 AO festgesetzt. Eine endgültige Entscheidung über die Höhe des Kindergeldes erfolge, sobald eine Bescheinigung über die Höhe der in Polen zustehenden Familienleistungen vorliege. Ergebe die Prüfung, dass die Klägerin zu wenig Kindergeld erhalten habe, werde der fehlende Betrag nachgezahlt. Sei das vorläufig festgesetzte Kindergeld zu hoch gewesen, müsse der überzahlte Betrag zurückgefordert werden. Gegen diesen Bescheid vom 14. März 2008 wurde kein Einspruch eingelegt. Mit Bescheid vom 14. September 2009 setzte die Familienkasse das Kindergeld für die Zeit von April 2008 bis August 2009 abschließend fest; auch gegen diesen Bescheid wurde kein Einspruch eingelegt. Mit Bescheid vom 27. Juli 2010 setzte die Familienkasse das Kindergeld für die Zeit von September 2009 bis Juli 2010 abschließend fest. Mit einem weiteren Bescheid vom 27. Juli 2010 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes ab August 2010 auf, und zwar mit der Begründung, der Kindsvater habe das Kind in seinen Haushalt aufgenommen und habe somit einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG. Ab dem 1. Mai 2010 seien die Vorschriften der neuen Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnung [EG] Nr. 883/2004) anzuwenden. Danach seien auf die Klägerin di...

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