Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeldanspruch einer nach Deutschland zugezogenen in Polen sozialversicherten Arbeitnehmerin

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine (noch) in Polen sozialversicherte Arbeitnehmerin, die allein aus persönlichen Gründen in Deutschland lebt und keiner Berufstätigkeit nachgeht, unterfällt nicht dem Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und unterliegt daher gem. der VO (EWG) Nr. 1408/71 nur den polnischen Rechtsvorschriften. Ein Anspruch auf deutsches Kindergeld für ihr in Polen beim Vater lebendes Kind besteht nicht.

2. Nach dem Wegfall der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Polen besteht jedoch, aufgrund des inländischen Wohnsitzes und der unbeschränkten Steuerpflicht eine Anspruchsberechtigung auf Kindergeld gem. § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG.

3. Der in Polen lebende Kindesvater ist hingegen nicht gem. § 62 Abs. 1 EStG anspruchsberechtigt, so dass dem Kindergeldanspruch die Vorschrift des § 64 Abs. 2 EStG nicht entgegensteht. Diese verlangt für die Berechtigtenbestimmung nach der Haushaltszugehörigkeit eine Berechtigung mehrerer Personen nach deutschem Recht.

4. Bei fehlendem Anspruch auf polnische Familienleistungen besteht danach ein Anspruch auf deutsches Kindergeld.

 

Normenkette

EStG § 64 Abs. 2, §§ 62, 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EWGV 1408/71 Art. 13; EWGV 574/72; EG Art. 39; AEUV

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 15.06.2016; Aktenzeichen III R 6/16)

BFH (Urteil vom 15.06.2016; Aktenzeichen III R 6/16)

 

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung über das bislang gewährte Kindergeld hinaus für das Kind B4 Kindergeld für den Zeitraum 1. Januar 2010 bis 31. Januar 2011 in voller Höhe zu bewilligen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens haben die Beteiligten je zur Hälfte zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Anspruch auf Kindergeld für ihr Kind B. für die Zeit ab Oktober 2008 zusteht.

Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Seit dem 17.10.2006 ist sie polizeilich in Berlin gemeldet. Am 08.09.2008 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Kindergeld für ihren am 13.08.1995 geborenen und in Polen bei seinem Vater, Herrn C., lebenden Sohn B.. In ihrem Antrag gab die Klägerin an, dass sie seit April 2006 unselbstständig erwerbstätig und bei der Firma D. in E. mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 23 Stunden beschäftigt sei. Seit dem 27.10.2006 befinde sie sich im Erziehungsurlaub. Ferner gab sie an, dass sie in Polen aufgrund ihrer Beschäftigung sozialversichert sei. Sie reichte eine Bescheinigung ihres Arbeitgebers vom 31.05.2009 ein, derzufolge das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin weiterhin bestand und sie der obligatorischen Sozialversicherung bei der polnischen Sozialversicherungsanstalt ZUS unterlag (Bl. 17 der Kindergeldakte).

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kindergeld mit Bescheid vom 20.11.2009 ab, da die Klägerin in Polen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei und folglich den polnischen Rechtsvorschriften unterliege. Ein Kindergeldanspruch bestehe in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Die Klägerin erhob Einspruch und machte geltend, dass sie weder sozialversicherungspflichtig in Polen beschäftigt sei noch den polnischen Rechtsvorschriften unterliege.

Mit Wirkung zum 31.12.2009 hoben die Klägerin und die Firma D. das Arbeitsverhältnis auf.

Die Beklagte wies den Einspruch mit Entscheidung vom 11.1.2011 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass deutsches Kindergeldrecht nicht anwendbar sei. Die Klägerin falle in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung – VO – (EWG) Nr. 1408/71 und der hierzu ergangenen Durchführungsverordnung – DVO – (EWG) Nr. 574/72. Diese Verordnungen gingen als überstaatliche Vorschriften der deutschen Rechtsordnung vor. Der Zweck der Verordnung bestehe darin, Kumulierungen und Überschneidungen der nationalen Rechtsvorschriften zu verhindern. Weise ein Antragsteller, der in den Geltungsbereich der Verordnung falle, Anknüpfungspunkte und Beziehungen zu mehreren EU-/EWR-Mitgliedstaaten auf, bestimmten die Kollisionsnormen des Zweiten Titels der Verordnung, welches nationale Recht Anwendung finde. Danach sei nur das Sozialrecht eines einzigen Staates auf den Betroffenen anwendbar. Eine Person, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt werde, unterliege nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates. Dies gelte auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohne oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftige, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet ei...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge