Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen für eine Änderung des „Zweitbescheids” nach § 174 Abs. 4 AO

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Änderungsmöglichkeit des § 174 Abs. 4 S. 1 AO bezieht sich ausschließlich auf die Befugnis zur Änderung des „Zweitbescheids” und nicht auf die Änderung des „Erstbescheids”, für die eine andere Korrekturvorschrift erfüllt sein muss.

2. Eine ohne Änderungsbefugnis vorgenommene Aufhebung des „Erstbescheids” darf dem FA keine weitergehenden Rechte geben, als es vor der Änderung hatte, so dass die Voraussetzungen für eine Änderung des „Zweitbescheids” nach § 174 Abs. 4 S. 1 AO nicht gegeben sind.

3. Unerheblich ist, ob die ohne Befugnis vorgenommene Änderung des „Erstbescheids” vom FA bewusst oder nur irrtümlich vorgenommen wurde.

 

Normenkette

AO § 174 Abs. 4 S. 1, Abs. 3

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 13.12.2016; Aktenzeichen X R 4/15)

 

Tenor

1. Der Bescheid des Beklagten zum 31.12.2006 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer vom 25. August 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. November 2010 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung von mehr als EUR 1.500,–, hat der Kläger in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit zu leisten. Liegt der vollstreckbare Kostenerstattungsanspruch im Wert bis zu EUR 1.500,–, ist das Urteil hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vollstreckbar. In diesem Fall kann die Beklagte der Vollstreckung widersprechen, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

5. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

 

Tatbestand

Der in A wohnhafte Kläger (Kl) ist von Beruf freier Handelsvertreter. Er erwarb am 30. August 1994 in B ein Einzelhandelsgeschäft, das er aus wirtschaftlichen Gründen zum 31. Oktober 1995 wieder aufgab. Ein betriebliches (damals) Konkursverfahren wurde nicht eingeleitet, da es zunächst zu verschiedenen Einigungsversuchen mit den Gläubigern kam.

Der Kl reichte zu seiner Einzelhandelstätigkeit für die Jahre 1994 und 1995 keine Einkommensteuer–(ESt)–Erklärungen bei dem Betriebsstätten-Finanzamt B (nachfolgend: B-FA) ein. Dieses erließ daraufhin am 14. Oktober 1996 Gewinnfeststellungsbescheide (GFB) 1994 und 1995, in denen es gemäß § 162 Abgabenordnung –AO– die gewerblichen Einkünfte des Kl jeweils mit DM 35.000 schätzte, und zwar unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (VdN – § 164 AO). Nachdem der Kl seine Bilanz zum 31.12.1994 und seine Schlussbilanz zum 31.10.1995 nebst Gewinnfeststellungserklärungen nachgereicht hatte, erließ das B-FA am 28. Januar 2000 geänderte GFB, in denen es jeweils ein Verlust feststellte, und zwar für das Jahr 1995 i.H. von DM 188.999.

Im Jahr 1999 leitete der Kl über sein Vermögen das Verbraucherinsolvenzverfahren (Privatinsolvenz) ein, das mit Beschluss vom 24. September 1999 eröffnet wurde und in dem als Insolvenzgläubiger sowohl das B-FA als auch der Beklagte (Bekl) involviert waren. Mit Beschluss vom 20. Dezember 2006 erteilte das Amtsgericht (AG) C die Restschuldbefreiung. Eine Ausfertigung des Beschlusses ging dem Bekl nach Rechtskrafterlangung ausweislich seines Eingangsstempels am 28. Juli 2007 zu (Bl. 83 Feststellungsakte B-FA 1995).

In seiner am 29. Februar 2008 beim Bekl eingegangenen ESt-Erklärung 2006 machte der Kl bei seinen gewerblichen Einkünften nur Angaben zur Handelsvertretertätigkeit.

Der Bekl setzte mit Bescheid vom 07. Mai 2008 die ESt 2006 mit EUR 0 fest. Mit selben Datum erließ er gemäß § 10d EStG einen Bescheid zum 31.12.2006 über die gesonderte Feststellung des verbleidenden Verlustvortrags zur ESt (VFB 2006). Beide Steuerbescheide, die der Bekl weder mit einem VdN noch mit einem Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der gewerblichen Einkünfte des Kl (§ 165 AO) versehen hatte, wurden bestandskräftig.

Das Staatliche Rechnungsprüfungsamt D (RPA) ging lt. seinem dem Bekl am 25. Juli 2008 übergebenen Aktenvermerk (Bl. 80 f. Feststellungsakte B-FA 1995) von Folgendem aus (kursive Hervorhebung hinzugefügt):

„…Nach dem dem FA vorliegenden Gläubigerverzeichnis betrugen die Rückstände des Stpfl. zum 31.12.1998 insgesamt 752.128 DM. Diese setzten sich wie folgt zusammen:

Warenlieferungen 1995

5.188 DM

Finanzamt B

27.671 DM

Steuerbüro F

59.969 DM

Eigenkapitalhilfeprogramm (Existenzgr.)

109.880 DM

Raiba G

156.360 DM

Miete Gewerberäume B

(Oktober 1995 bis Januar 1996)

14.391 DM

I Darlehen

350.917 DM

Diverse andere Verbindlichkeiten

27.752 DM

Somit dürfte der Stpfl. seinen Betrieb in B nach Aktenlage bis Januar 1996 ausgeübt haben. In welcher Höhe dem Stpfl. betriebliche Schulden erlassen wurden geht aus der Akte nicht hervor. Der Erlass der betrieblichen Schulden stellt jedoch einen Ertrag beim Stpfl. im Jahr der Betriebsaufgabe d...

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