Bekanntgabe als ausschlaggebender Zeitpunkt?: Verlässt ein Steuerbescheid vor Ablauf einer Frist den Bereich der zuständigen Finanzbehörde, ist dies für die Fristwahrung gem. § 169 Abs. 1 S. 3 AO ausreichend, auch wenn seine Bekanntgabe außerhalb der Frist erfolgt. Es handelt sich hierbei um eine Beweiserleichterung über den Zugangsnachweis zugunsten der Finanzbehörde (vgl. Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 169 AO Rz. 75 [Okt. 2020]). Dies hätte jedoch einen rückwirkenden Eintritt der Ablaufhemmung zur Folge, der gegen den oben genannten systematischen Grundsatz der Hemmung von laufenden Fristen verstoßen würde.

Telos des § 169 Abs. 1 S. 3 AO: Diesem Ergebnis steht der Telos der Norm entgegen. Die Funktion des § 169 Abs. 1 S. 3 AO ist nicht die Vorverlagerung oder gar Fiktion des Bekanntgabezeitpunktes (Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 169 AO Rz. 77 [Okt. 2020]). Vielmehr soll § 169 Abs. 1 S. 3 AO in Fällen, in denen eine tatsächliche Bekanntgabe vorliegt, zu einer Nachweiserleichterung des Zugangs seitens der Behörde führen (Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 169 AO Rz. 75 [Okt. 2020]). Die tatsächliche Bekanntgabe nach § 122 AO wird zudem nicht durch § 169 Abs. 1 S. 3 AO aufgehoben, sondern weiterhin vorausgesetzt (BFH v. 25.11.2002 – GrS 2/01, BStBl. II 2003, 548 = BFHE 201, 1 Rz. 37). Der Regelungsgehalt ist somit auf die Fristwahrung gerichtet und nicht auf die Wirksamkeit des Steuerbescheides durch Verlängerung oder Hemmung (BFH v. 22.8.1996 – V B 30/96, Rz. 13; Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 169 AO Rz. 77 [Okt. 2020]). Rechtliche Konsequenzen, die mit der Wirksamkeit eines Steuerbescheides einhergehen, sollen indes nicht fingiert werden. Mit anderen Worten ist der Zugangsnachweis für die Wahrung der Frist nach § 169 Abs. 1 S. 3 AO zwar unerheblich, der Zeitpunkt der Wirksamkeit – und damit zugleich der Bindungswirkung – bleibt jedoch weiterhin an die tatsächliche Bekanntgabe geknüpft (BFH v. 22.8.1996 – V B 30/96, Rz. 13; vgl. Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 169 AO Rz. 75 [Okt. 2020]). Folglich wäre die Vorverlagerung der Bindungswirkung nicht mit dem Zweck der Nachweiserleichterung des Zugangs von Steuerbescheiden i.S.d. § 169 Abs. 1 S. 3 AO vereinbar.

Zweck des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO: Allerdings könnte für eine derartige Vorverlagerung der Bindungswirkung der Zweck des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO in Form der Anpassungspflicht angeführt werden (zur Gewährleistung der Anpassung des Folgebescheides an den Grundlagenbescheid als Regelungszweck von § 171 Abs. 10 Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 171 AO Rz. 192 f. [Okt. 2020]). Ein wirksam ergangener Grundlagenbescheid wäre ohne die Umsetzung in den Folgebescheid letztlich wirkungslos. Bei genauerer Betrachtung steht der Umstand, dass ein wirksamer Grundlagenbescheid besteht, der – in Folge des Festsetzungsfristablaufes – nicht mehr im Folgebescheid umgesetzt werden kann, der Hemmung jedoch nicht entgegen. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung in § 181 AO ein Feststellungsverfahren eingeführt, das eine dienende Funktion gegenüber dem Folgebescheid bezweckt (vgl. BT-Drucks. VI/1982, 157; v. Wedelstädt, AO-StB 2009, 238 [238]). Die Anpassungspflicht in § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO verknüpft diesen dualen Verfahrensaufbau. Die Ablaufhemmung in § 171 Abs. 10 AO gewährleistet zugleich, dass die Umsetzung der Anpassungspflicht in Folge des Festsetzungsfristablaufes nicht unmöglich wird. Allerdings setzt diese Anpassungspflicht in § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO bereits eine Bindungswirkung zwischen Grundlagen- und Folgebescheid voraus. Nach dem Wortlaut und Telos der Norm besteht daher nur dann eine Anpassungspflicht, "soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt" (Hervorhebung nur hier) vorliegt (vgl. BFH v. 13.12.2000 – X R 42/96, BFHE 194, 305 = BStBl. II 2001, 471 Rz. 51; v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 175 AO Rz. 141 [Okt. 2020]). Wenn jedoch – wie oben dargestellt – die Bindungswirkung grundsätzlich erst mit der tatsächlichen Bekanntgabe entsteht, bestand in den vorliegenden Fällen zum Zeitpunkt des Festsetzungsfristablaufes keine schutzwürdige Anpassungspflicht. Die Feststellungsverjährung und Festsetzungsverjährung können insofern zu unterschiedlichen Zeitpunkten eintreten (Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler AO/FGO, § 171 AO Rz. 192 [Okt. 2020]). Demnach gebietet der Regelungszweck des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO mangels Anpassungspflicht keine Auswirkung des § 169 Abs. 1 S. 3 AO auf die Bindungswirkung. Denn nur bei offener Festsetzungsfrist kann die entstehende Bindungswirkung eines Grundlagenbescheides eine Hemmung auslösen (BFH v. 16.10.2007 – VIII R 8/05, Rz. 15).

Letztlich würde in einer Folgebetrachtung der Regelungsbereich des § 169 Abs. 1 S. 3 AO zu weit ausgedehnt. Eine Vorverlagerung der Bindungswirkung hätte – aufgrund der Regelung des § 171 Abs. 10 AO – zugleich Auswirkung auf den Fristablauf eine...

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