Ausnahme vom Grundsatz der unzulässigen Hemmung abgelaufener Fristen?: Die Hemmungswirkung des § 171 Abs. 10 AO erscheint im Einzelfall problematisch, wenn der Grundlagenbescheid zum Ende seiner Feststellungsfrist erlassen wird, seine Bekanntgabe i.S.d. § 122 AO allerdings erst nach Fristablauf erfolgt. In diesem Fall könnte eine Ausnahme von dem oben genannten Grundsatz – der unzulässigen Hemmung von abgelaufenen Fristen – in Betracht kommen. Andernfalls wären Fälle denkbar, in denen eine Umsetzung wegen Fristablaufs in den Folgebescheid nicht mehr möglich ist. Der Feststellungsbescheid könnte dann ebenfalls keine Bindungswirkung entfalten. Das folgende Beispiel veranschaulicht das Problem:

 

Beispiel

A ist Gesellschafter der AB-GbR. Die AB-GbR erzielt in VZ 2014 Einkünfte aus VuV gem. § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 i.V.m. § 21 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG i.H.v. 100.000 EUR. In ihrer Feststellungserklärung im Jahr 2015 werden leichtfertig nur 50.000 EUR angegeben. A gibt seine Einkommensteuererklärung im Jahr 2016 zutreffend ab. Aufgrund eines Versehens des FA geht der Feststellungsbescheid zur einheitlichen und gesonderten Feststellung mit Einkünften i.H.v. 50.000 EUR erst am 30.12.2020 zur Post. Der Zugang und zugleich die Bekanntgabe erfolgen am 2.1.2021.

Die Festsetzungsfrist des Grundlagenbescheides beginnt aufgrund der Anlaufhemmung mit Ablauf des 31.12.2015 gem. §§ 181 Abs. 1 S. 1 i.V.m. 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Halbs. 1 AO. Die Frist beträgt aufgrund der leichtfertigen Verkürzung fünf Jahre gem. § 169 Abs. 2 S. 2 Fall 2 AO und endet daher mit Ablauf des 31.12.2020 (§ 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB). Der Zugang als Voraussetzung der Wirksamkeit (§ 124 Abs. 1 AO) erfolgt gemäß der Dreitagesfiktion nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am 2.1.2021, also grundsätzlich erst nach Fristablauf. Ausnahmsweise ist die Frist zugunsten der Finanzverwaltung jedoch gem. § 181 Abs. 1 S. 1, § 169 Abs. 1 S. 3 AO gewahrt, da der Feststellungsbescheid vor Ablauf der Feststellungsfrist, hier am 30.12.2020, zur Post gegeben wurde.

Ausnahmsweise nachträgliche Hemmung?: Zu diesem Zeitpunkt wären sowohl die Frist für die Änderung des Grundlagenbescheides als auch für den Folgebescheid bereits abgelaufen. Die Frist des geänderten Grundlagenbescheides gilt allerdings, aber auch nur, nach § 181 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 169 Abs. 1 S. 3 AO als gewahrt. § 171 Abs. 10 S. 1 AO bewirkt hier im Grundsatz keine Ablaufhemmung des Folgebescheides, da die tatsächliche Bekanntgabe erst nach Ablauf der Festsetzungsverjährung vorliegt. Nur aufgrund des § 169 Abs. 1 S. 3 AO ist die Frist für den Grundlagenbescheid gewahrt. Damit der Anpassungspflicht aus § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO genüge getan werden kann, müsste eine Änderung des Folgebescheides aber noch möglich sein. Mit Ablauf der Frist ist eine Änderung eines Steuerbescheides nach § 169 Abs. 1 S. 1 AO allerdings nicht mehr zulässig. Insofern stellt sich die Frage, ob die Hemmung des § 171 Abs. 10 AO ausnahmsweise nachträglich noch eintreten kann. Die Konstellation kann ebenfalls zu jedem beliebigen Zeitpunkt während des Kalenderjahres erfolgen.

Für eine wirksame Hemmung kommt es maßgeblich darauf an, dass die Voraussetzungen eines in § 171 AO aufgeführten Hemmungstatbestandes vor Ablauf der Festsetzungsfrist erfüllt sind. § 171 Abs. 10 AO verlangt hierzu einen Grundlagenbescheid, der bindend ist. Zu welchem Zeitpunkt die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 171 Abs. 10 AO vorlagen, richtet sich daher nach dem Entstehungszeitpunkt der Bindungswirkung. § 182 Abs. 1 S. 1 AO setzt voraus, dass Feststellungen im Rahmen eines Feststellungsbescheides getroffen wurden. Aus dem Wortlaut ("[...], soweit die in den Feststellungsbescheiden getroffenen Feststellungen [...]") ergibt sich, dass der Feststellungsbescheid mithin zumindest wirksam "in der Welt" sein muss.

Damit kommt es für die Bindungswirkung auf den Zeitpunkt der Wirksamkeit des Feststellungsbescheides an. Hierfür gelten die allgemeinen Vorschriften über die Durchführung der Besteuerung gem. § 181 Abs. 1 S. 1 AO sinngemäß. Grundsätzlich tritt demnach die Bindungswirkung mit der Wirksamkeit des Feststellungsbescheides ein, die ihrerseits an die Bekanntgabe nach § 182 Abs. 1 S. 1, § 181 Abs. 1 S. 1, § 124 Abs. 1, 3, § 122 AO geknüpft ist (BFH v. 29.2.2012 – IX R 21/10, BFH/NV 2012, 1297; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 182 AO Rz. 35 [Okt. 2020]). In dem oben skizziert Fall wäre die tatsächliche Bekanntgabe – und somit zugleich die Bindungswirkung – erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist eingetreten. Die Hemmung der Frist wäre nach dem Grundsatz nicht mehr möglich.

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