Entscheidungsstichwort (Thema)

Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Anwendungsbereich. Art. 51. Durchführung des Unionsrechts. Bekämpfung von die Eigenmittel der Union gefährdenden Verhaltensweisen. Art. 50. Grundsatz ne bis in idem. Nationale Regelung, die bei der Ahndung ein und desselben Fehlverhaltens zu zwei getrennten Verfahren, einem verwaltungsrechtlichen und einem strafrechtlichen, führt. Vereinbarkeit

 

Beteiligte

Åkerberg Fransson

Åklagare

Hans Åkerberg Fransson

 

Tenor

1. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgestellte Grundsatz ne bis in idem hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.

2. Das Unionsrecht regelt nicht das Verhältnis zwischen der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und bestimmt auch nicht, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch diese Konvention gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat.

Das Unionsrecht steht einer Gerichtspraxis entgegen, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, da sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof der Europäischen Union – die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Haparanda tingsrätt (Schweden) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Dezember 2010, in dem Verfahren

Åklagare

gegen

Hans Åkerberg Fransson

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, M. Ilešič, G. Arestis, J. Malenovský, der Richter A. Borg Barthet und J.-C. Bonichot, der Richterin C. Toader sowie der Richter J.-J. Kasel und M. Safjan (Berichterstatter),

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Åkerberg Fransson, Prozessbevollmächtigter: J. Sterner, advokat, und U. Bernitz, professor,
  • der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und S. Johannesson als Bevollmächtigte,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
  • der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,
  • Irlands, vertreten durch D. O'Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von M. McDowell, SC,
  • der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou und Z. Chatzipavlou als Bevollmächtigte,
  • der französischen Regierung, vertreten durch N. Rouam als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und J. Langer als Bevollmächtigte,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und J. Enegren als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juni 2012

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem im Unionsrecht.

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das aufgrund einer vom Åklagare (Staatsanwalt) erhobenen Anklage wegen Steuerhinterziehung in einem schweren Fall gegen Herrn Åkerberg Fransson eingeleitet wurde.

Rechtlicher Rahmen

Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

Rz. 3

Art. 4 des am 22. November 1984 in Straßburg unterzeichneten Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Protokoll Nr. 7) bestimmt unter der Überschrift „Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden”:

„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.

(2) Artikel 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsac...

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