Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Verzögerungen bei der Briefbeförderung. rechtliches Gehör. Mitwirkungspflicht

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Verzögerungen bei der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost oder die empfangende Behörde sind dem Bürger nicht als Verschulden i. S. des § 56 Abs. 1 FGO zuzurechnen.

2. Es stellt keine unzumutbare Belastung dar, im Wiedereinsetzungsantrag die Einzelheiten der behaupteten rechtzeitigen Absendung darzulegen, zum Beispiel ob der Prozeßvertreter persönlich die Schriftsätze geschrieben, kuvertiert und in einen Postkasten oder in der Post aufgegeben hat, ob die Schriftsätze am Samstag von ihm persönlich oder von anderen Personen, zum Beispiel Angestellten, aufgegeben worden sind, oder ob die Schriftsätze im Hinblick auf etwaige getrennte Revisionsverfahren in zwei Briefumschlägen oder gemeinsam in einem versandt worden sind. Ein solcher schlüssiger Vortrag kann unter Umständen, schon für sich die rechtzeitige Absendung glaubhaft machen.

3. Verfassungsrechtlich ist weder eine mündliche Verhandlung geboten noch umfaßt der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG die in den Verfahrensordnungen einfachrechtlich niedergelegten Erörterungs-, Hinweis- und Aufklärungspflichten. Der im Steuerprozeß geltende Untersuchungsgrundsatz entbindet die Beteiligten nicht von ihren prozessualen Mitwirkungspflichten, insbesondere nicht ihrer Darlegungs- und Erklärungslast hinsichtlich aller entscheidungserheblichen Tatsachen.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; FGO § 56 Abs. 1, 2 S. 2, § 76 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 13.09.1985; Aktenzeichen VIII R 119/84)

 

Gründe

1. Der Rechtsweg ist im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht erschöpft worden. Hierzu hätte die form- und fristgerechte Einlegung der durch Verfahrensordnungen zur Verfügung gestellten Rechtsmittel (vgl. BVerfGE 34, 204 ≪205≫) gehört. Der Bundesfinanzhof hat in Auslegung und Anwendung einfachen Rechts ohne Verkennung der besonderen Bedeutung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien in Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG die Revision wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist (§ 120 Abs. 1, §§ 124, 126 Abs. 1 FGO) ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß verworfen.

Nach ständiger Rechtsprechung verbieten es diese Rechtsschutzgarantien, vom Bürger nicht zu vertretende Verzögerungen bei der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost oder die empfangende Behörde im Sinne des § 56 Abs. 1 FGO diesem als Verschulden zuzurechnen (vgl. BVerfGE 40, 42 ≪44≫; 44, 302 ≪306≫; 53, 148 ≪151≫; 62, 334 ≪336≫}. Um den Zugang zu dem Gericht und zu den nach den Verfahrensordnungen eröffneten weiteren Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren, dürfen die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 41, 332 ≪339≫).

In dem Ausgangsverfahren handelt es sich jedoch nicht um die Frage der Beförderung einer Sendung, sondern um die in den Verantwortungsbereich des Rechtsmittelführers fallende Pflicht, für eine rechtzeitige Absendung eines fristgebundenen Schriftsatzes zu sorgen. Zu Recht vermißt der Bundesfinanzhof in dem Wiedereinsetzungsantrag einen hinreichend schlüssigen Tatsachenvortrag (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO). Es stellt keine unzumutbare Belastung dar, die Einzelheiten der behaupteten rechtzeitigen Absendung darzulegen, zum Beispiel ob der Prozeßvertreter persönlich die Schriftsätze geschrieben, kuvertiert und in einen Postkasten oder in der Post aufgegeben hat, ob die Schriftsätze am Samstag von ihm persönlich oder von anderen Personen, zum Beispiel Angestellten, aufgegeben worden sind, oder ob die Schriftsätze im Hinblick auf die getrennten Revisionsverfahren in zwei Briefumschlägen oder gemeinsam in einem versandt worden sind. Ein solcher schlüssiger Vortrag kann unter Umständen, schon für sich die rechtzeitige Absendung glaubhaft machen.

2. a) Verfassungsrechtlich ist weder eine mündliche Verhandlung geboten (BVerfGE 42, 364 ≪370≫) noch umfaßt der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG die in den Verfahrensordnungen einfachrechtlich niedergelegten Erörterungs-, Hinweis- und Aufklärungspflichten (vgl. BVerfGE 66, 116 ≪147≫). Entgegen der in der Verfassungsbeschwerde aufgestellten Behauptung hat sich der Prozeßvertreter ausführlich zur Wiedereinsetzung äußern können und dies auch tatsächlich getan aufgrund des entsprechenden Hinweises durch den Berichterstatter.

b) Der im Steuerprozeß geltende Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) entbindet die Beteiligten nicht von ihren prozessualen Mitwirkungspflichten, insbesondere nicht ihrer Darlegungs- und Erklärungslast hinsichtlich aller entscheidungserheblichen Tatsachen (vgl. BFH, BStBl. II 1970 S. 458; BVerfGE 48, 271 ≪280≫).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1567779

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