Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsschutz. Ablauf einer Rechtsbehelfsfrist nicht mit Dienstende, sondern Tagesende

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Rechtzeitigkeit eines Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid bei Einwurf in den Hausbriefkasten der Verwaltungsbehörde.

 

Leitsatz (redaktionell)

Bedeutung und Tragweite der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG im Bußgeldverfahren werden verkannt, wenn die für die Fristberechnung maßgebliche Vorschrift des § 43 StPO vom allgemein zuständigen Gericht dahin ausgelegt wird, daß die Frist bei schriftlicher Einlegung des Einspruchs nicht erst um 24 Uhr des letzten Tages ende (also “mit Ablauf des Tages”, wie es dem zwanglos gar nicht anders verstehbaren Gesetzwortlaut entspricht). Insbesondere geht es nicht an, den Ablauf des Tages mit dem Ende der Dienstzeit bei Behörden gleichzusetzen.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; StPO § 43 Abs. 1, §§ 44, 45 Fassung: 1975-01-07

 

Verfahrensgang

LG Landau (Pfalz) (Beschluss vom 11.09.1975; Aktenzeichen I Qs 126/75)

 

Gründe

A.

I.

Gegen einen am 7. Juni 1975 (Samstag) zugestellten Bußgeldbescheid des Landratsamts Germersheim wegen einer Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr legte der Beschwerdeführer durch seinen Verteidiger Einspruch ein. Die vom 16. Juni 1975 datierte Einspruchsschrift erhielt beim Landratsamt den Eingangsstempel vom 18. Juni 1975. Durch Beschluß vom 24. Juli 1975 verwarf das Amtsgericht Germersheim den Einspruch als verspätet.

Mit der sofortigen Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, der Einspruch sei rechtzeitig eingegangen. Die in der Kanzlei des Verteidigers in Kandel gefertigte Schrift sei gefälligkeitshalber von einem anderen Mandanten des Rechtsanwalts mitgenommen und am 16. Juni 1975 gegen 17 Uhr in den Hausbriefkasten des Landratsamts Germersheim eingeworfen worden. Der andere Mandant versicherte eidesstattlich die Richtigkeit dieser Angaben.

Am 11. September 1975 verwarf das Landgericht Landau in der Pfalz das Rechtsmittel als unbegründet. Es sieht zwar als erwiesen an, daß die Schrift am 16. Juni 1975 gegen 17 Uhr in den Briefkasten der zuständigen Verwaltungsbehörde gelangt sei, hält aber den Einspruch aus folgenden Erwägungen gleichwohl für verspätet: Im gerichtlichen wie im Bußgeld-Verfahren gehe ein Schriftstück nicht schon dadurch zu, daß es irgendwie in den Machtbereich der Behörde komme. Vielmehr sei erforderlich, daß es innerhalb der Frist zum zuständigen Beamten gelange, und zwar derart, daß dieser jedenfalls die abstrakte Möglichkeit der Kenntnisnahme – sei es auch durch einen Gehilfen – habe. Das geschehe nicht schon durch den Einwurf in den Hausbriefkasten der Behörde. Denn solche Einrichtungen seien nach der Verkehrsauffassung nur dahin zu verstehen, daß der “Einlaufbeamte” die eingehenden Schriftstücke erst zu dem Zeitpunkt entgegennehme, zu dem nach den Umständen eine Leerung zu erwarten sei. Der Eingangszeitpunkt bestimme sich also danach, wann der Briefkasten üblicherweise geleert werde. Niemand könne erwarten, daß nach Dienstschluß noch eine Leerung erfolge. Gegen 17 Uhr sei aber normalerweise bei Behörden bereits Dienstschluß, zumal vor einem Feiertag.

II.

Mit der gegen den Beschluß des Landgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Die einwöchige Einspruchsfrist ende erst mit “Ablauf” des letzten Tages. Eine zur Fristwahrung erforderliche Handlung könne also regelmäßig bis um 24 Uhr an diesem letzten Tag vorgenommen werden. Bei Einwurf eines der Fristwahrung dienenden Schriftstücks in den Hausbriefkasten einer Behörde sei der Zeitpunkt des Einwurfs maßgebend, sofern er sich zuverlässig feststellen lasse. Demgemäß hätte das Landgericht den nachweislich am 16. Juni 1975 gegen 17 Uhr eingeworfenen Einspruch als rechtzeitig ansehen müssen.

III.

Der Justizminister des Landes Rheinland-Pfalz, dem Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist, hat von einer Äußerung abgesehen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

I.

1. Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert dem Bürger einen effektiven Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt; der Bürger hat Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (BVerfGE 35, 263 [274]). Der Zugang zum Gericht darf daher nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (BVerfGE 40, 272 [274 f.] mit Nachweisen). Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat der Bürger ferner das Recht, sich im gerichtlichen Verfahren zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu äußern und in diesem Sinne vom Richter zur Sache gehört zu werden (BVerfGE 38, 35 [38] mit Nachweisen). Diesen beiden einander ergänzenden verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien hat nicht nur der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der jeweiligen Verfahrensordnungen Rechnung zu tragen, sondern auch die Fachgerichte haben sie ungeachtet ihrer grundsätzlich feststehenden Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des einfachen Verfahrensrechts bei ihren Entscheidungen im Einzelfall zu beachten (Beschluß vom 11. Februar 1976 – BVerfGE 41, 323 [326 ff.] mit weiteren Nachweisen).

2. Als Rechtsbehelf gegen einen Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde hat der Gesetzgeber dem Betroffenen in § 67 OWiG den Einspruch zur Verfügung gestellt, dessen wirksame Einlegung freilich zugleich an die Einhaltung einer nach Maßgabe des § 43 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG zu berechnenden Frist von einer Woche geknüpft. Diese der Rechtssicherheit – als einem Element des in Art. 20 Abs. 3 GG normierten Rechtsstaatsprinzips – dienende gesetzliche Befristung des Rechtsbehelfs begegnet verfassungsrechtlich keinen Bedenken. Dagegen werden Bedeutung und Tragweite der Art. 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG im Bußgeldverfahren verkannt, wenn die für die Fristberechnung maßgebliche Vorschrift des § 43 StPO vom allgemein zuständigen Gericht dahin ausgelegt wird, daß die Frist bei schriftlicher Einlegung des Einspruchs nicht erst um 24 Uhr des letzten Tages ende (also “mit Ablauf des Tages”, wie es dem zwanglos gar nicht anders verstehbaren Gesetzwortlaut entspricht). Insbesondere geht es nicht an, den Ablauf des Tages mit dem Ende der Dienstzeit bei Behörden gleichzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies bereits für den Fall entschieden, daß ein mittels Fernschreibens eingelegter Einspruch am letzten Tag der Frist zwar noch vor 24 Uhr, aber nach “Dienstschluß” bei der zuständigen Behörde eingeht (BVerfGE 41, 323 [327 f.]).

3. Für einen einfachen schriftlichen, in den Hausbriefkasten der Behörde eingeworfenen Einspruch kann nichts anderes gelten. Auch in diesem Fall bedeutet es eine unzumutbare, eines sachlich rechtfertigenden Grundes entbehrende Erschwerung des Zugangs zum Gericht, wenn die Rechtzeitigkeit des Einspruchs davon abhängig gemacht wird, daß das Schriftstück (am letzten Tag) vor Ende der Dienstzeit oder vor der behördenintern üblichen Leerungszeit in den Hausbriefkasten gelangt ist. Die eng am Wortlaut des § 43 Abs. 1 StPO orientierte Auslegung läßt keine Minderung der Rechtssicherheit befürchten; denn die Behörden können durch die relativ einfache Einrichtung eines Nachtbriefkastens zuverlässig kontrollieren, ob die Einwurfzeit vor 24 Uhr lag. Demgegenüber führt das Abstellen auf die Dienstzeiten oder auf die üblichen Leerungszeiten wegen deren Uneinheitlichkeit zu Rechtsunsicherheit und Ungleichbehandlung, zumal der Bürger mit diesen Zeiten nicht vertraut ist. Die Beachtung der Dienstzeit ist freilich von demjenigen zu verlangen, der seinen Einspruch zur Niederschrift der Behörde einlegen, sich also deren aktiver Mitwirkung bedienen will.

II.

Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluß nicht gerecht. Das Landgericht zieht nicht in Zweifel, daß der Einspruch des Beschwerdeführers am letzten Tag der Frist gegen 17 Uhr in den Hausbriefkasten des Landratsamts eingeworfen worden ist. Daß es ihn gleichwohl als verspätet behandelt, beruht auf einer Verkennung von Bedeutung und Tragweite der Art. 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG. Der Beschluß ist daher aufzuheben und die Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückzuverweisen. Nach § 34 Abs. 4 BVerfGG hat das Land Rheinland-Pfalz dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Fundstellen

BVerfGE, 128

NJW 1976, 1255

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