Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiederaufrollen des gesamten Steuerfalls nach Berichtigung rechtskräftiger Steuerbescheide

 

Leitsatz (amtlich)

Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, wonach unter den Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO der gesamte Steuerfall wieder aufzurollen ist, verstößt weder gegen ein Grundrecht noch sonst gegen das Grundgesetz.

 

Normenkette

GG Art. 2, 20; AO § 222

 

Verfahrensgang

BFH (Urteil vom 21.02.1964; Aktenzeichen III 143/61 U)

BFH (Urteil vom 07.11.1963; Aktenzeichen IV 335/61 U)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

 

Tatbestand

A.

I.

1. Der Beschwerdeführer zu 1) betreibt ein Einzelhandelsgewerbe. Er hat mit schriftlichem Vertrag seine volljährige Tochter als stille Gesellschafterin in das Geschäft aufgenommen. Die Gesellschaftseinlage hat er seiner Tochter geschenkt und mit ihr eine prozentuale Gewinnbeteiligung vereinbart. Das Finanzamt … erkannte bei der Veranlagung zur Einkommensteuer 1953 bis 1955 die Gewinnbeteiligung der Tochter zunächst in vollem Umfange an.

Eine spätere Betriebsprüfung stellte hinsichtlich der bereits endgültig veranlagten Zeiträume neue steuererhebliche Tatsachen fest, die mit der Gewinnbeteiligung der Tochter in keinem Zusammenhang standen, jedoch nach Ansicht der Steuerbehörde eine höhere Veranlagung des Steuerpflichtigen rechtfertigten. Das Finanzamt änderte daraufhin gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO die endgültigen Steuerbescheide für die Jahre 1953 bis 1955 durch Bescheid vom 21. Mai 1958 ab und versagte nunmehr auch die volle Anerkennung der Gewinnbeteiligung der Tochter.

Der Einspruch des Beschwerdeführers gegen den Berichtigungsbescheid blieb erfolglos. Mit der Berufung zum Finanzgericht … hatte er teilweise Erfolg. Das Finanzgericht … verneinte die Zulässigkeit einer Berichtigungsveranlagung für das Jahr 1953, für 1954 und 1955 erhöhte es den steuerlich anzuerkennenden Gewinnbeteiligungsbetrag der Tochter.

Auf die Rechtsbeschwerde des Finanzamts … die sich auf die Veranlagungszeiträume 1954 und 1955 bezog, hob der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 7. November 1963 die angefochtenen Entscheidungen auf und, setzte die Einkommensteuer 1954 und 1955 neu fest. Unter Berufung auf seine bisherige Rechtsprechung hielt er, sobald neue Tatsachen bekanntgeworden sind, die Berichtigung von Steuerbescheiden über den Berichtigungsanlaß hinaus für zulässig, da § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gestatte, den gesamten Fall wiederaufzurollen und die Berichtigung nicht darauf beschränke, daß nur die neuen Tatsachen berücksichtigt werden. Die neuen Tatsachen müßten allerdings von einigem Gewicht sein.

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer zu 1) gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 7. November 1963. Er rügt die Verletzung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltungstätigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG).

Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, die vom Bundesfinanzhof im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs zu § 222 AO für zulässig erachtete Aufrollung des ganzen Steuerfalles finde in der Abgabenordnung keine gesetzliche Grundlage. Die Finanzverwaltung könne außerhalb der genau umrissenen Tatbestände des § 222 AO rechtskräftige Steuerbescheide nicht nachträglich abändern. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sei auch willkürlich, weil der Steuerfall nur neu aufgerollt werden dürfe, wenn neue Tatsachen „von einigem Gewicht” festgestellt werden. Eine Rechtsgrundlage hierfür bestehe nicht.

2. Die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin zu 2) setzte in ihrer Vermögensaufstellung zum 21. Juni 1948 einen Schuldposten „Provisionsverpflichtungen” für Ansprüche ihrer Vertreter auf Umsatzprämie und Provision aus noch nicht ausgeführten, aber bereits bestätigten Aufträgen ein. Bei der Feststellung des Einheitswertes ihres Betriebsvermögens zum 21. Juni 1948 und der Vermögensteuer ließ das Finanzamt diesen Betrag zum Abzug zu.

Mit Bescheid vom 20. Juli 1955 änderte das Finanzamt auf Grund des Ergebnisses einer Betriebsprüfung, bei der neue steuererhebliche Tatsachen festgestellt wurden, die Einheitswertfeststellung des Betriebsvermögens zum 21. Juni 1948 gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und verweigerte dabei die Abzugsfähigkeit des Schuldpostens „Provisionsverbindlichkeiten” aus Rechtsgründen.

Einspruch, Berufung zum Finanzgericht … und Rechtsbeschwerde zum Bundesfinanzhof blieben ohne Erfolg. Im Urteil vom 21. Februar 1964 hielt es der Bundesfinanzhof im Anschluß an die ständige Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und des Bundesfinanzhofs für zulässig, bei der nachträglichen Feststellung neuer Tatsachen „von einigem Gewicht” den gesamten abgeschlossenen Steuerfall nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO wieder aufzurollen.

Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 2) wendet sich gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 21. Februar 1964 und die vorausgegangenen Bescheide und Entscheidungen.

Sie rügt Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG und des Rechtsstaatsprinzips.

Das Rechtsstaatsprinzip sei deshalb verletzt, weil die angefochtenen Entscheidungen gegen die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gewaltenteilung, gegen das rechtsstaatliche Postulat der Rechtsbeständigkeit von Akten der Rechtsfindung und gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstießen. Sie beschränkten die Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht nur auf die Berücksichtigung der festgestellten neuen Tatsachen, sondern rollten gegen den Wortlaut des Gesetzes den ganzen Steuerfall neu auf.

Der Berichtigungsbescheid des Finanzamts … vom 20. Juli 1955 sei ohne gesetzliche Grundlage ergangen, da § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nach seinem Wortlaut, seiner Stellung im Rahmen der Abgabenordnung und nach seinem Sinngehalt nicht die Befugnis gebe, einen durch Steuerbescheid abgeschlossenen Steuerfall bei Bekanntwerden neuer Tatsachen im vollen Umfange neu aufzurollen.

Mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung sei es unvereinbar, daß die Rechtsprechung hier einen Rechtssatz entwickelt habe, der im Gesetz keinen Anhaltspunkt finde. Eingriffsrechte des Staates auf dem Gebiete des Steuerrechts könnten nicht vom Richter über das Gesetz hinaus neu geschaffen oder ausgeweitet werden. Den Steuerbescheiden, denen ein förmliches Ermittlungsverfahren vorausgehe, komme als Akte der Rechtsfindung eine besondere Bestandskraft zu. Nach dem Rechtsstaatsprinzip müßte die Rechtsbeständigkeit Solcher Akte im Rahmen des Gesetzes gesichert bleiben.

Das Rechtsstaatsprinzip verlange nicht nur materielle Gerechtigkeit, sondern gewährleiste auch die Rechtssicherheit. In Konfliktsituationen gehe die Rechtssicherheit der materiellen Gerechtigkeit grundsätzlich vor. Das bedeute, daß der Steuerpflichtige die ihm gegenüber möglichen steuerlichen Eingriffe müsse voraussehen können, um die Möglichkeit zu haben, sich dementsprechend einzurichten. Der Steuerpflichtige müsse auch nach Abschluß der Veranlagung darauf vertrauen können, daß der für einen bestimmten Zeitraum festgestellte steuererhebliche Sachverhalt abschließend behandelt und verbeschieden sei.

Auch das Grundrecht der Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) werde verletzt, weil durch die von der Finanzverwaltung und der Steuerrechtsprechung für zulässig gehaltene Aufrollung des gesamten abgeschlossenen Steuerfalles der Steuerpflichtige Steuernachforderungen ausgesetzt und damit der Kern jeder unternehmerischen Tätigkeit, nämlich der vorausschauenden Planung und Kalkulation, entscheidend beeinträchtigt werde.

II.

1. Der Bundesminister der Finanzen hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

Die allgemeine Handlungsfreiheit auf wirtschaftlichem Gebiet, die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt werde, stehe unter dem Vorbehalt der Einschränkung durch die Rechtsordnung. Hierzu gehöre auch § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO. Diese Bestimmung verstoße nicht gegen die Verfassung. Sie stelle eine Kompromißlösung zwischen dem Prinzip der Rechtskraft und der Rechtssicherheit und der Richtigkeit der Besteuerung, also der materiellen Gerechtigkeit, dar. Beide Prinzipien hätten gleichen Rang. Es liege in der Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers, welchem Prinzip er im Einzelfall den Vorrang einräumen wolle. Die Grenze des gesetzgeberischen Ermessens sei bei §222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht überschritten. Von Willkür könne keine Rede sein.

Die Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durch den Bundesfinanzhof sei weder willkürlich noch beruhe sie auf irgendwelchen grundrechtswidrigen Erwägungen. Das Gericht lege die Vorschrift entsprechend ihrem Sinngehalt aus, ohne sich von sachfremden Erwägungen leiten zu lassen oder einen neuen Tatbestand zu schaffen. Die Ordnungsmäßigkeit des Besteuerungsverfahrens sowie die Gleichmäßigkeit der Besteuerung aller Bürger verlange die Zulässigkeit der Wiederaufrollung eines Steuerfalles aus Anlaß einer Berichtigungsveranlagung.

Der Grundsatz, im Rahmen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO den gesamten Fall wiederaufzurollen, diene der Steuergerechtigkeit im Sinne einer gleichmäßigen Besteuerung auch insofern, als die Nachveranlagung sich auch zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken könne. Es sei deshalb sachlich vertretbar, wenn dem Prinzip der Steuergerechtigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung der Vorrang vor dem Grundsatz der Bestandskraft von Steuerbescheiden eingeräumt werde.

2. Der Bundesfinanzhof hat im Verfahren zu 1) mitgeteilt, daß die Senate des Bundesfinanzhofs an der zuständigen Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und des Bundesfinanzhofs, nach der im Fall einer Berichtigung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO der gesamte Steuerfall aufgerollt werden könne, festhielten.

 

Entscheidungsgründe

B.

1. Die Bundesregierung hat erklärt, daß sie den Verfahren beitrete. Sie hat jedoch auf mündliche Verhandlung verzichtet und Anträge nicht gestellt. Es kann daher unentschieden bleiben, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung einem Verfahren der Verfassungsbeschwerde beitreten kann.

2. Die beiden Verfahren haben dieselben Rechtsfragen zum Gegenstand. Sie werden deshalb zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

3. Die form- und fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerden sind zulässig.

Die Beschwerdeführer rügen, der Bundesfinanzhof habe unter Mißachtung der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung gegen Wortlaut und Sinn eines von ihm angewandten Gesetzes neue Rechtssätze geschaffen und sie seinen Urteilen zugrunde gelegt. Das Gericht habe dadurch das Rechtsstaatsprinzip verletzt und die Beschwerdeführer in ihrer Handlungsfreiheit beeinträchtigt. Nach dem vorgetragenen Sachverhalt ist eine solche Verletzung vorstellbar und daher schlüssig behauptet.

C.

Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet.

I.

§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO ist eine gültige Norm, die Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist. Sie lautet:

§ 222

(1) Hat bei Steuern, bei denen die Verjährungsfrist mehr als ein Jahr beträgt, das Finanzamt nach Prüfung des Sachverhalts einen besonderen, im Gesetz selber vorgesehenen schriftlichen Bescheid (Steuerbescheid, Steuermeßbescheid, Freistellungsbescheid oder Feststellungsbescheid) erteilt, so findet, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, eine Änderung des Bescheids (eine Berichtigungsveranlagung oder eine Berichtigungsfeststellung) nur statt:

  1. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen, und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist;
  2. Wenn durch eine Betriebsprüfung vor dem Ablauf der Verjährungsfrist neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen;
  3. wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine höhere Veranlagung rechtfertigt, und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist, dies gilt nicht für die Steuern vom Einkommen, vom Ertrag, vom Umsatz und vom Vermögen (ausschließlich der Erbschaftsteuer);
  4. wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde vor dem Ablauf der Verjährungsfrist Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine niedrigere Veranlagung rechtfertigt.

(2) …

Bereits die Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 (RGBl S. 1993) hatte in § 212 die Frage der Änderung von Steuerbescheiden für den Fall geregelt, daß neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt wurden. § 212 RAO a. F. lautete, soweit er hier von Bedeutung ist:

Wenn nichts Abweichendes vorgeschrieben ist, sind Nachforderungen von Steuern bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zulässig.

Hat jedoch bei Steuern, bei denen die Verjährungsfrist (§ 121) mehr als ein Jahr betragt, das Finanzamt nach Prüfung des Sachverhalts einen besonderen, im Gesetze selbst vorgesehenen schriftlichen Bescheid (Veranlagungs-, Freistellungs- oder Feststellungsbescheid) erteilt, so ist, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, eine Neuveranlagung nur zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen.

§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gibt den Steuerbehörden die Möglichkeit, bestimmte Steuerverwaltungsakte (Steuerbescheide) unter den im einzelnen im Gesetz festgelegten Voraussetzungen bis zur Verjährung der ihnen zugrunde liegenden Steueransprüche zu ändern. Sie schränkt die Bestandskraft der Steuerverwaltungsakte zugunsten der richtigen Anwendung des materiellen Rechts ein.

Die durch § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zugelassene Berichtigungsveranlagung ist eine Folge des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dient zugleich der Steuergerechtigkeit. Sie verstößt nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil die Vorschrift unter sachgerechter Güterabwägung für eine begrenzte Zeit bis zum Ablauf der Verjährungsfrist dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung vor demjenigen der Rechtssicherheit den Vorrang gibt. Anhaltspunkte dafür, daß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO unter anderen Gesichtspunkten gegen das Grundgesetz oder seine tragenden Prinzipien verstoße, liegen nicht vor. Die Vorschrift ist demnach mit dem Grundgesetz vereinbar.

II.

Die Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durch die angefochtenen Urteile läßt einen Verfassungsverstoß nicht erkennen.

1. Diese Urteile beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und des Bundesfinanzhofs zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO.

Vgl.: I. Reichsfinanzhof

VI

e

178/24

27.11.1924

RStBl

1925 S.

65

I

A

222/32

18.10.1932

1932 S.

958

I

A

183/33

27.9.1933

1933 S.

1158

I

A

432/32

8.11.1933

1933 S.

1236

I

A

94/33

12.6.1934

1934 S.

849

I

A

168/35

17.3.1936

1936 S.

557

VI

A

588/35

16.12.1936

1937 S.

272

VI

212/38

25.5.1938

1938 S.

626

III

215/37

10.12.1938

1938 S.

538

VI

841–842/38

15.2.1939

1939 S.

393

II. Bundesfinanzhof

VI

296/57

S

5.12.1958

BStBl

1959 III S.

86

V

264/58

U

21.7.1960

1960 III S.

480

I

141/60

U

17.1.1961

1961 III S.

130

V

180/59

U

8.2.1962

1962 III S.

225

I

95 u. 110/60

S

5.6.1962

1963 III S.

110

V

244/61

S

22.11.1962

1963 III S.

31

III

143/61

U

21.2.1964

1964 III S.

437

V

275/60

U

23.7.1964

1964 III S.

540

I

54/64

S

16.3.1965

1965 III S.

388

Diese Rechtsprechung besagt:

a) Liegen die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach Abs. 1 Nr. 1 oder 2 der Bestimmung vor, so ist das Finanzamt grundsätzlich verpflichtet, einen. Berichtigungsbescheid zu erlassen. Die Berichtigung steht nicht in seinem Ermessen. Der gesamte Steuerfall ist wieder aufzurollen, d.h., die neue Steuerfestsetzung ist so zu treffen, als sei sie die erste. Eine Bindung an die der ursprünglichen Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Beurteilungen tatsächlicher oder rechtlicher Art ist daher nicht geboten. Die Berichtigung bezieht sich nicht nur auf die neuen Tatsachen und ihre Auswirkungen auf den Steuerfall, sondern erstreckt sich auch auf die in der ursprünglichen Veranlagung zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen enthaltenen Fehler.

b) Für die Frage wie die Berichtigung durchzuführen ist, wird unterschieden,

ob die Voraussetzungen der Nummer 1 für eine Berichtigung zuungunsten des Steuerpflichtigen,

ob die Voraussetzungen der Nummer 2 für eine Berichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen oder

ob die Voraussetzungen sowohl der Nummer 1 als auch der Nummer 2 vorliegen.

Liegen nur die Voraussetzungen für eine Berichtigung zuungunsten des Steuerpflichtigen (Höherfestsetzung nach Nr. 1) vor, so darf die ursprüngliche Festsetzung nicht zugunsten des Steuerpflichtigen unterschritten werden; andererseits darf, wenn nur die Voraussetzungen für eine Herabsetzung gegeben sind (Nr. 2), die Steuer nicht höher festgesetzt werden. Liegen sowohl die Voraussetzungen der Nr. 1 und 2 vor, so bestehen für die Berichtigung zugunsten wie zuungunsten der Steuerpflichtigen keine Schranken.

c) Eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO (ebenso aber nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO) ist nur möglich, wenn die neu festgestellten Tatsachen „von einigem Gewicht” sind. Dabei bleiben Mehr- oder Mindestbeträge bis zu einer unteren absoluten Grenze von 100 DM immer unberücksichtigt; von einer oberen absoluten Grenze von 1 000 DM an werden sie immer als gewichtig angesehen; bei dazwischen liegenden Beträgen kommt es darauf an, ob im Einzelfall der Mehr- oder Minderbetrag 10 v. H. der bisherigen Steuer überschreitet.

d) Die Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO kann nach Treu und Glauben ausgeschlossen sein, wenn das Finanzamt durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hat, daß der Steuerpflichtige eine Berichtigung auf Grund neuer Tatsachen nicht mehr zu erwarten hat, oder wenn das Finanzamt dem Steuerpflichtigen die künftige Behandlung der Sache in einem bestimmten Sinn zugesagt und er seine. Dispositionen nach dieser Zusage eingerichtet hat; gegenüber einem Verstoß gegen zwingende gesetzliche Vorschriften kann der Grundsatz von Treu und Glauben jedoch nicht angewandt werden.

2. Gegen diese Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO, nach der es zulässig ist, den gesamten Fall wiederaufzurollen, sind in der Literatur schwerwiegende Bedenken erhoben worden:

§ 222 Abs. 1 AO spreche einleitend von einer „Änderung des Bescheids” und nicht schlechthin von dem Erlaß eines neuen Bescheids. Sei die Änderung eines Bescheids –wie § 222 Abs. 1 AO ausdrücklich hervorhebe– „nur” unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, so gebiete schon der Wortsinn der Auslegung, daß der Bescheid auch nur nach Maßgabe der die Änderung verursachenden Umstände geändert werden könne; andernfalls verliere das Wort „nur” seinen tieferen Sinn. Er bestehe darin, die Unanfechtbarkeit der Steuerbescheide der Rechtskraft gerichtlicher Urteile anzunähern. Für die enge Auslegung des § 222 AO spreche ferner, daß die Änderung eine Berichtigung sein solle. Berichtigung sei dem Wortsinn nach das Richtigstellen eines bestimmten Fehlers. Da die Auslegung vom Wortlaut auszugehen habe, überzeuge das Argument nicht, daß durch Notverordnung vom Jahre 1930 das Wort „Neuveranlagung” nur aus rechtssystematischen Gründen durch das Wort „Berichtigungsveranlagung” ersetzt worden sei. Die Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durch den Bundesfinanzhof erscheine um so bedenklicher, als § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nur ein Fall von vier Berichtigungsfällen sei, die nach ihrer Gliederung eine Einheit bildeten; für die Anwendungsfälle Nr. 3 und 4 dieser Bestimmung habe aber die Rechtsprechung festgestellt, daß sich die Berichtigung nur auf die von der Aufsichtsbehörde aufgedeckten Fehler zu beschränken habe; es sei unlogisch, zuzulassen, das Steuerverfahren in den Fällen des § 222 Nr. 3 und 4 AO nur teilweise, hingegen in den Fällen des § 222 Nr. 1 und 2 AO im gesamten Umfange aufzurollen, obwohl für die verschiedene Behandlung kein Grund ersichtlich sei.

Nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AO sei die Fehlerberichtigung an die Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde gebunden, während bei der Aufrollung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO das Finanzamt ohne weiteres – also unter Ausschaltung der Aufsichtsbehörde – nach der Rechtsprechung zur Fehlerberichtigung ermächtigt sei, auch wenn die festgestellte neue Tatsache in keinem Zusammenhang mit dem Fehler stehe. Das habe der Gesetzgeber nicht gewollt.

Die Wiederaufrollung des gesamten Falles, wie sie von der Rechtsprechung für zulässig erachtet werde, verstoße also gegen Wortlaut, Sinn und Zweck des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO und damit gegen den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur AO und den Nebengesetzen, Anm. 9–10 zu § 222 AO; Kühn, AO, 7. Aufl., Anm. 11 zu § 222 AO; Tipke-Kruse, AO, Anm. 19, zu § 222 AO; Tipke-Kruse, Finanz-Rundschau 1960, S. 424; Tipke, Finanz-Rundschau 1963, S. 476; Riewald, AO II, S. 378; Ehlers, Steuer und Wirtschaft 1948, Sp. 940; Thoma, Mitteilungsblatt der Steuerberater, 1957, S. 114; Friedrich, Finanz-Rundschau 1958, S. 5; Weißenborn, Finanz-Rundschau 1959, S. 122 f.; Redeker, Deutsche Steuerzeitung A 1960, S. 173; Müller, Steuer und Wirtschaft 1960, Sp. 545; Hermstädt, Steuer und Wirtschaft 1963, Sp. 145 und 683; Hippe, Die Änderung und Berichtigung von Steuerbescheiden 1961, S. 161 ff.; Friedländer, Wiederaufrollung des ganzen Falles im Steuerrecht, Betriebs-Berater 1964, S. 1118 ff.; Hörstmann, Neue BFH-Urteile zur Sachaufklärung und Berichtigungsveranlagung, Finanz-Rundschau 1965, S. 3 ff.; Vogel, Die Berichtigungsveranlagung 1959, S. 74 ff.).

3. Die Rechtsprechung, wonach unter den Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO der gesamte Steuerfall wieder aufzurollen ist, verstößt weder gegen ein Grundrecht noch sonst gegen das Grundgesetz. Sie hält sich an die hergebrachten Methoden der Gesetzesauslegung und verletzt nicht das Gewaltenteilungsprinzip.

a) Aus dem Wortlaut des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO ergeben sich zur Frage des Umfangs der vorzunehmenden Berichtigung keine zwingenden Anhaltspunkte: unter einer „Änderung des Bescheids” kann sowohl seine vollständige als auch seine teilweise Änderung verstanden werden. Der Gesetzeswortlaut ist also nicht eindeutig, sondern gibt Raum zu seiner Auslegung durch den Richter.

Der Reichsfinanzhof leitete das Gebot der „Wiederaufrollung des gesamten Falles” unter der Geltung des § 212 AO a. F. aus dem dort gebrauchten Begriff der „Neuveranlagung” ab. Diese Auslegung beruft sich auf den Wortlaut und den Sinnzusammenhang der Bestimmung mit anderen Vorschriften der Abgabenordnung; sie ist vertretbar.

b) Auch nachdem die Notverordnung vom 1. Dezember 1930 (RGBl I S. 517) die Bestimmung des § 212 AO a. F. durch die heute noch geltende Vorschrift des § 222 AO ersetzt hatte, hielt der Reichsfinanzhof an seiner Rechtsprechung uneingeschränkt fest. Er war der Auffassung, die Gesetzesänderung habe in bezug auf den Umfang der Berichtigung keine sachliche Änderung gegenüber der bisherigen Gesetzeslage gebracht. Auch diese Auffassung steht nicht in Widerspruch zum Wortlaut des Gesetzes und läßt sich mit guten Gründen vertreten. Mag rein sprachlich gesehen das von § 222 AO gebrauchte Wort „Berichtigungsveranlagung” enger sein als das in § 212 Abs. 2 AO a. F. verwendete Wort „Neuveranlagung”, so folgt daraus noch nicht, daß der Gesetzgeber eine erforderlich gewordene Berichtigung gegenüber dem früheren Rechtszustand sachlich einschränken wollte. Aus der amtlichen Begründung (siehe Drucks. zu Nr. 181 der Tagung 1930 des Reichsrates, „Begründung zu den Gesetzentwürfen über die Steuerveranlagung vom 15. November 1930”) ergibt sich vielmehr, daß der Begriff der „Neuveranlagung” durch den Begriff „Berichtigungsveranlagung” ersetzt wurde, weil jener Begriff im Vermögensteuergesetz zum Ausdruck brachte, daß eine frühere – richtige – Veranlagung mit Wirkung ex nunc durch eine Neuveranlagung ersetzt wird. Die Berichtigungsveranlagung im Sinne des § 222 AO hingegen tritt mit Wirkung ex tunc an die Stelle einer früheren falschen Veranlagung. Man wollte durch die Neufassung vermeiden, daß mit demselben Ausdruck zwei ganz verschiedene Dinge bezeichnet werden.

c) Die vom Bundesfinanzhof fortgeführte Rechtsprechung beruht auf einer allerdings nicht zwingenden, aber naheliegenden Auslegung des Gesetzeswortlauts sowie des Sinnes des Gesetzes. Außerdem wägt sie die Folgerungen aus den Postulaten der Rechtssicherheit und der Steuergerechtigkeit für die Frage der Rechtsbeständigkeit der steuerrechtlichen Verwaltungsakte ab. Das Ergebnis mag vom Standpunkt des einfachen Rechts nicht voll befriedigen. In der Literatur wird darauf hingewiesen, daß das Prinzip der Gesamtüberprüfung unter Wiederaufrollung des gesamten Falles sehr leicht zur Umgehung der Schranken des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO führen könne. Wenn nämlich die Verwaltung einen rechtlichen Fehler entdecke, der nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO nicht berücksichtigt werden dürfe, so könne sie tatsächliche Ermittlungen anstellen, um mit Hilfe etwa aufgedeckter neuer Tatsachen doch noch eine Berichtigung eines Falles ermöglichen zu können (vgl. Spitaler, AO zu § 222 AO Anm. 9). So vorzugehen könnte die Finanzverwaltung besonders bei der Einkommensteuer versucht sein, weil für diese Steuerart die Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 unzulässig ist. Das aber wäre Willkür.

Es fällt auch auf, daß die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu § 222 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AO eine Berichtigung nur insoweit zuläßt, als sich der aufgedeckte Fehler ausgewirkt hat, während sie in den Fällen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO für geboten erachtet, den Fall insgesamt aufzurollen. Die Begründung für diese Rechtsansicht, daß nämlich die Fälle des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO wesentlich verschieden seien von denjenigen der Nr. 3 und 4 dieser Vorschrift, ist zwar nicht zwingend, aber keineswegs sachfremd. § 222 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AO betreffen Fälle eines Fehlers in der Rechtsanwendung; § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO dagegen Fälle des Bekanntwerdens neuer Tatsachen und Beweismittel. Die differenzierende Behandlung der Fälle des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 einerseits und der Fälle des § 222 Abs. 1 Nr. 3 und 4 andererseits ist daher nicht willkürlich.

d) Verfassungsrecht ist nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv unrichtig sein mag. Der Fehler muß gerade in der Nichtbeachtung von Verfassungsrecht liegen. Eine solche Verletzung liegt noch nicht vor, wenn die Anwendung einfachen Rechts durch den zuständigen Richter zu einem Ergebnis geführt hat, über dessen Richtigkeit sich streiten läßt, oder wenn bei einer dem Richter aufgetragenen Abwägung widerstreitender Interessen die von ihm vorgenommene Wertung fragwürdig ist. Der Reichsfinanzhof und der Bundesfinanzhof haben bei der Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO der Gerechtigkeit der Besteuerung größere Bedeutung als der Rechtssicherheit beigemessen. Diese Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

Fundstellen

BStBl I 1966, 412

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge