Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte gegenüber der bei ihr versicherten Klägerin Kosten für hormonelle Antikonzeptiva zu tragen hat.

Die im Jahre 1966 geborene Klägerin leidet an einer Hauterkrankung, nämlich einem Pemphigus vulgaris (Blasensucht), die unbehandelt lebensbedrohlich werden kann. Ihr Kassenarzt hat sie mit Tigason und Cortison behandelt. Eine der Nebenwirkungen des Medikaments Tigason besteht darin, daß bei einer Schwangerschaft der Embryo mit hoher Wahrscheinlichkeit geschädigt wird. Die Klägerin hat im Februar 1988 die Kostenübernahme für eine antikonzeptionelle Medikation beantragt. Die Beklagte hat den Antrag abgelehnt. Mit der Klage hat die Klägerin die Bescheinigung des Direktors der Hautklinik D. vorgelegt, wonach es während der Tigason-Behandlung und zwei Jahre darüber hinaus unumgänglich sei, daß eine absolut zuverlässige Kontrazeption erfolge; die zuverlässigste Kontrazeption erfolge durch hormonelle Antikonzeptiva.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß die Verordnung der hormonellen Antikonzeptiva hier als ein Teil der Heilbehandlung anzusehen sei. Die Beklagte hat Revision eingelegt. Nach Nr. 22 der Arzneimittelrichtlinien vom 19. Juni 1978 in der Fassung vom 29. November 1983 dürften Mittel, die ausschließlich der Empfängnisverhütung dienen, nicht verordnet werden. Eine Kostenübernahme sei daher nicht möglich, auch wenn die Mittel, wie hier, medizinisch erforderlich seien und ihre Anwendung die eigentliche Heilbehandlung erst ermögliche. Denn es bleibe gleichwohl die Tatsache, daß die Antikonzeptiva der Verhütung der Schwangerschaft diene.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16. Juni 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist nicht begründet.

Es ist zwar zutreffend, daß es unter Ziffer 22 der Arzneimittelrichtlinien (in der geänderten Fassung vom 12. Januar 1989) heißt:

Mittel, die ausschließlich der Empfängnisverhütung dienen sollen, dürfen in der kassenärztlichen Versorgung nicht zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden.

Abgesehen davon, daß das streitige Mittel, wie noch auszuführen sein wird, nicht ausschließlich der Empfängnisverhütung, sondern zugleich auch der Gesunderhaltung der Klägerin dienen soll, fehlt dieser Vorschrift schon die Qualität einer spezifischen Richtlinien-Norm. Die Bundesausschüsse sind durch die Richtlinien-Ermächtigung (früher § 368p Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-, seit 1. Januar 1989 § 92 des Sozialgesetzbuches V - Gesetzliche Krankenversicherung - -SGB V-) zwar befugt, gesetzliche Begriffe wie die der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit des Behandlungsmittels näher zu konkretisieren, sodaß es sich insoweit um normkonkretisierende Rechtsvorschriften handelt. Sie sind aber nicht befugt, wie hier ganz generell - oberhalb der genannten Begriffe - zu bestimmen, was ein gesetzliches Krankenbehandlungsmittel sein soll und was nicht (- zur Rechtsnatur der kassenärztlichen Arzneimittelrichtlinie vgl. Baader, Juristenzeitung, 1990, Heft 9 -). In diesem allgemeinen Sinne den Inhalt und die Grenzen des krankenversicherungsrechtlichen Arzneimittels festzulegen, ist daher Sache des Gesetzgebers. Tatsächlich ergibt sich zwar nicht ausdrücklich, aber doch mittelbar aus den gesetzlichen Bestimmungen, daß ein Empfängnisverhütungsmittel als solches kein Arzneimittel ist. Insofern handelt es sich bei der Vorschrift, auf die sich die Beklagte stützt, um eine bloß deklaratorische Wiedergabe des Gesetzesrechts. Solche Beschreibungen innerhalb der "Arzneimittel-Richtlinien" mögen zwar zweckmäßig sein, um dem Kassenarzt einen raschen Gesamtüberblick über die Verordnungsfähigkeit/Nichtverordnungsfähigkeit bestimmter Mittel zu geben; eine eigene Normativität kommt ihnen aber nicht zu.

Nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst a und b RVO bzw. nach § 27 SGB V umfaßt die Krankenbehandlung außer der ärztlichen Behandlung auch die Versorgung mit Arznei- und Heilmitteln. Ein Empfängnisverhütungsmittel, das ausschließlich als solches eingesetzt wird, ist zwar kein Arzneimittel. Eine solche ausschließliche Zweckbestimmung liegt hier aber gerade nicht vor, will der Arzt es doch gerade anwenden, um schädliche Auswirkungen seiner Behandlungsmethode, nämlich der Verordnung des Arzneimittels Tigason, zu vermeiden.

Das hier streitige Mittel hat nicht deshalb als (verordnungsfähiges) Arzneimittel auszuscheiden, weil es selbst nicht an der eigentlichen Krankheit ansetzt, um auf diese einzuwirken. Es reicht aus, wenn es mittelbar wirkt, sei dies dadurch, daß erst zusammen mit einem anderen Mittel die krankheitsbekämpfende Gesamtwirkung ausgelöst wird oder daß es gesundheitsschädliche Auswirkungen des Hauptmittels verhindern soll. In diesem Sinne ist bei der Frage nach der krankheitsbekämpfenden Wirkung des Behandlungsmittels nicht eng auf die zu behandelnde Krankheit als solche, sondern auf ein gesundheitliches Gesamtbild abzustellen, das ein Vermeiden von anderweitigen Krankheitsnachteilen mit umgreift. Einem Mittel, das auf solchen Zweck gerichtet ist, kann daher die Verordnungsfähigkeit weder mit der Begründung abgesprochen werden, daß es nicht unmittelbar bei der Bekämpfung der Krankheit ansetzt, noch damit, daß es eine die Krankheit bekämpfende unmittelbare Wirkung gar nicht habe.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, daß das bei der Klägerin zur Bekämpfung ihrer Hauterkrankung angewandte Mittel mit hoher Wahrscheinlichkeit zu embryonalen Schäden führt und daß das streitige Verhütungsmittel eine Schwangerschaft am zuverlässigsten verhindert. Der Klägerin steht daher nach den obigen Ausführungen der streitige Anspruch dann zu, wenn eine embryonale Schädigung zugleich als eine Gesundheitsbeeinträchtigung der Klägerin, nämlich als eine ihr zurechenbare Krankheit anzusehen ist und ihr auch nicht zugemutet werden kann, eine Schwangerschaft durch geschlechtliche Enthaltsamkeit zu vermeiden. Beides ist der Fall. Eine Schädigung des Embryos ist nicht loslösbar von der psycho-physischen Befindlichkeit der Mutter; die Abweichung der Leibesfrucht von der gesundheitlichen Norm beeinträchtigt zugleich auch sie in ihrer psycho-physischen Normalität. Für das Bestehen einer (anspruchsausschließenden) Verpflichtung gegen sich selbst, die Schwangerschaft durch geschlechtliche Enthaltsamkeit zu verhindern, gibt es aber keine rechtlichen Gründe.

Die Revision der Beklagten war demnach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

BSGE, 163

NJW 1990, 2343

AusR 1990, 12

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