Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkende Berücksichtigung eines nichtehelichen Kindes beim staatlichen Kindergeld als Zählkind

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein nichteheliches Kind ist unter bestimmten Voraussetzungen ab seiner Geburt als Zählkind bei der Kindergeldgewährung zu berücksichtigen, wenn die Vaterschaft erst später anerkannt wird.

 

Normenkette

BKGG § 9 Abs. 1-3; SGB I § 45 Abs. 1; BGB § 1600a S. 2

 

Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt rückwirkendes Kindergeld unter Berücksichtigung eines nichtehelichen Kindes.

Der Kläger hat die Vaterschaft für sein nichteheliches Kind K. , geboren im Januar 1973, im August 1990 anerkannt. Auf seinen noch im selben Monat gestellten Antrag auf erhöhtes Kindergeld berücksichtigte die Beklagte ab Januar 1986 K. als Zählkind und berief sich im übrigen auf Verjährung (Bescheid vom 29. Januar 1991, Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 1991).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, das Kind K. ab dessen Geburt als Zählkind bei der Kindergeldgewährung zu berücksichtigen (Urteil vom 18. Dezember 1991). Auf die vom SG zugelassene Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Januar 1993). Die Vorschrift des § 9 Abs. 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) gehe den Verjährungsvorschriften des § 45 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht vor.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger inhaltlich eine Verletzung des § 9 Abs. 3 BKGG. Diese Regelung schließe die allgemeine Vorschrift des § 45 Abs. 1 SGB I aus. Der Kläger werde auf Unterhaltszahlungen für das Kind K. bereits vom Zeitpunkt der Geburt an in Anspruch genommen. Dann müsse ihm auch das erhöhte Kindergeld für den entsprechenden Zeitraum zustehen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide zu verpflichten, das Kind K. ab Januar 1973 als Zählkind bei dem Kindergeld des Klägers zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Das Urteil des LSG entspreche dem für die Zahlung von Kindergeld im öffentlichen Dienst ergangenen Rundschreiben.

II

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Auf die zulässige Revision des Klägers war das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hat einen Anspruch auf das ihm mit den angefochtenen Bescheiden der Beklagten gewährte erhöhte Kindergeld bereits ab Januar 1973, der Geburt seines nichtehelichen Kindes K., das bei ihm als Zählkind zu berücksichtigen ist (§ 10 Abs. 1 Satz 1 BKGG).

Die Einrede der Verjährung (§ 45 Abs. 1 SGB I) der Beklagten greift nicht durch. Denn der Anspruch des Klägers ist noch nicht verjährt.

Nach § 45 Abs. 1 SGB I verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Der Anspruch des Klägers auf erhöhtes Kindergeld ist erst mit der Feststellung seiner Vaterschaft durch Anerkennung (§ 1600a Satz 1 BGB) im August 1990 entstanden und nicht bereits mit der Geburt des Kindes K.

Die Voraussetzungen, die § 9 Abs. 1 BKGG (vgl. auch § 40 Abs. 1 SGB I) für das Entstehen des Kindergeldanspruches aufstellt, waren tatsächlich zwar schon von Anfang an erfüllt. Denn K. war im Verhältnis zum Kläger bereits ab Geburt "sein Kind", wie dies in § 1 Abs. 1 Satz 1 BKGG vorausgesetzt wird. Erst infolge der Feststellung der Vaterschaft durch Anerkennung entstand jedoch rückwirkend ein mit Rechtswirkungen ausgestattetes Kindschaftsverhältnis (§ 9 Abs. 3 BKGG; hierzu BSG vom 28. Oktober 1982, BSGE 54, 153, 154 = SozR 5870 § 9 Nr. 4). Der Kläger war vor Feststellung der Vaterschaft rechtlich gehindert, seinen Anspruch auf erhöhtes Kindergeld durchzusetzen. Denn nach § 1600a Satz 2 BGB können die Rechtswirkungen der Vaterschaft eines nichtehelichen Kindes erst vom Zeitpunkt dieser Feststellung an geltend gemacht werden, soweit sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. Diese sogenannte Rechtsausübungssperre gilt auch im Sozialrecht (BSG vom 8. März 1990, BSGE 66, 246, 248 = SozR 3-1300 § 111 Nr. 2 zum Beginn der Ausschlußfrist des § 111 SGB X). Sie bewirkt, daß einem nach Feststellung der Vaterschaft geltend gemachten Anspruch nicht schon aus diesem Grunde die Einrede der Verjährung entgegengehalten werden kann. Ein Recht, welches nicht ausgeübt werden kann, weil rechtliche Hindernisse entgegenstehen, verjährt nicht.

Dieses Ergebnis entspricht der Rechtsprechung des BSG bereits zum früheren § 29 Abs. 3 Reichsversicherungsordnung (RVO). Nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Dezember 1971 (BSGE 34, 1, 18 = SozR Nr. 24 zu § 29 RVO) begann die Verjährung nach dieser Regelung (die insoweit auf die "Fälligkeit" abstellte) zu dem Zeitpunkt, in dem die Möglichkeit zu sofortiger Geltendmachung des Anspruchs beim Leistungsträger gegeben war; erst dann entstand danach der Anspruch. In Anwendung dieser Grundsätze ist das BSG in seiner Entscheidung vom 20. November 1973 (FEVS 22, 241) dann davon ausgegangen, daß Waisenrentenansprüche für ein Kind, dessen Ehelichkeit angefochten worden ist, erst nach Rechtskraft des Anfechtungsurteils geltend gemacht werden können, allerdings auch für die Zeit seit seiner Geburt. Die vierjährige Verjährungsfrist beginne erst zu dem Zeitpunkt, zu dem der Antrag auf Waisenrente frühestens mit Erfolg gestellt werden kann.

Diese Rechtsprechung zu § 29 Abs. 3 RVO a.F. ist auch nicht durch das SGB I überholt. Denn nach wie vor widerspricht es dem Sinn und Zweck des Verjährungsinstituts, wollte man einen Anspruchsberechtigten einem (durch die NichtGeltendmachung eines Anspruchs bedingten) Rechtsnachteil unterwerfen, der in seiner praktischen Auswirkung einem Rechtsverlust gleichkommt, wenn das Gesetz selbst ihm die Geltendmachung des Anspruchs untersagt (so auch BGH vom 6. Oktober 1967, BGHZ 48, 361, 366).

Nichts anderes gilt im Kindergeldrecht. Entgegen der Auffassung des LSG stellt § 9 Abs. 3 BKGG keine diese Regelung verdrängende Spezialvorschrift zu § 1600a Satz 2 BGB dar. Nach § 9 Abs. 3 BKGG gilt die sechsmonatige Rückwirkung ab dem Antragsdatum (§ 9 Abs. 2 BKGG) nicht, wenn ein nichteheliches Kind bei seinem Vater zu berücksichtigen ist und der Antrag innerhalb der ersten sechs Monate nach Ablauf des Monats der Anerkennung der rechtskräftigen Feststellung der Vaterschaft gestellt wird. Diese rückwirkende Gewährung von Kindergeld steht zu der sich aus § 1600a Satz 2 BGB ergebenden Rechtslage nicht in Widerspruch, sondern ergänzt sie für das Kindergeldrecht folgerichtig. Zur Verjährung ergibt sich aus § 9 Abs. 3 BKGG nichts. Vielmehr wird für Sachverhalte wie den vorliegenden lediglich die anspruchsvernichtende Wirkung des § 9 Abs. 2 BKGG ausgeschlossen.

Auch im Zivilrecht ist im Ergebnis unstreitig, daß (Unterhalts-) Ansprüche, denen bis zur Feststellung der Vaterschaft § 1600a Satz 2 BGB entgegengehalten werden kann, vor der Feststellung nicht verjähren. Hierbei ist lediglich umstritten, ob die Verjährung des Unterhaltsanspruchs eines nichtehelichen Kindes gegen seinen Vater bis zur Feststellung der Vaterschaft nach § 202 Abs. 1 BGB gehemmt ist oder ob sie überhaupt erst mit der Feststellung der Vaterschaft zu laufen beginnt; für die letztgenannte Ansicht spreche, daß der Anspruch i.S. von § 198 BGB erst als "entstanden" anzusehen sei, wenn er ausgeübt werden könne (offengelassen in BGH vom 20. Mai 1981, FamRZ 1981, 763 m.w.N. zu beiden Meinungen).

Das oben erläuterte Ergebnis wird durch die Entwicklung der Regelungen zur Kindergeldberechtigung der Väter nichtehelicher (unehelicher) Kinder unterstützt. Vor Geltung der im Jahre 1970 durch das Nichtehelichenrecht eingeführten allgemeinen Rechtsausübungssperre des § 1600a Satz 2 BGB hatten die für den Kindergeldanspruch für Väter unehelicher Kinder geltenden gesetzlichen Voraussetzungen dieselbe Wirkung. Nach dem Klammerzusatz in § 2 Abs. 1 Nr. 5 des Kindergeldgesetzes (KGG) von 1954 (BGBl. I, 333) galten uneheliche Kinder als Kinder i.S. dieses Gesetzes im Verhältnis zu dem Vater nur dann, wenn die Vaterschaft oder die Unterhaltspflicht festgestellt worden war. Das BKGG von 1964 (BGBl. I, 265) erhielt in § 2 Abs. 1 Nr. 4 BKGG eine entsprechende Fassung. Damit entstand der Kindergeldanspruch des Vaters eines unehelichen Kindes erst mit Feststellung der (Zahl-) Vaterschaft. Erst von diesem Zeitpunkt an begann seine Verjährung. Dies galt auch für den rückwirkenden Anspruch ab Geburt des Kindes, der durch Einfügung des dem heutigen § 9 Abs. 3 BKGG entsprechenden § 9 Abs. 2 Satz 2 BKGG durch Art 10 Nr. 6 des Finanzänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1967 (BGBl. I, 1259) klargestellt worden war (entsprechend, schon vor der gesetzlichen Regelung, bereits BSG vom 21. Februar 1961, SozR Nr. 1 zu § 4 KGG).

Den nachfolgenden Änderungen des BKGG läßt sich in keinerlei Hinsicht eine Änderung dieser Rechtslage entnehmen. § 2 Abs. 1 Nr. 4 BKGG erhielt zwar durch das 2. BKGG-Änderungsgesetz vom 16. Dezember 1970 (BGBl. I, 1722) die Formulierung "nichteheliche Kinder" - unter Fortfall des Klammerzusatzes zum Beginn der Kindergeldberechtigung ihrer Väter. Durch diese Änderung war jedoch nach der Gesetzesbegründung "lediglich eine formale Anpassung an das neue Nichtehelichen-Recht des BGB" beabsichtigt (BT-Drucks VI/939, S. 3 zu Art 1 Nr. 1). Der genannte Klammerzusatz war überflüssig geworden, da zum 1. Juli 1970 u.a. auch die Vorschrift des § 1600a Satz 2 BGB in Kraft getreten war; auch unter ihrer Geltung blieb es dabei, daß der Vater eines nichtehelichen Kindes einen Kindergeldanspruch nur dann geltend machen konnte, wenn die Vaterschaft festgestellt war. Ebenfalls keine Änderung der Rechtslage hat schließlich gebracht, daß § 2 Abs. 1 BKGG mit dem Adoptionsanpassungsgesetz vom 24. Juni 1985 (BGBl. I, 1144) "redaktionell" bereinigt wurde; in § 2 Abs. 1 BKGG fielen die bisherigen Nrn 1 - 4 weg, da sie durch die Formulierung "seine Kinder" in § 1 Abs. 1 Satz 1 BKGG als erfaßt angesehen wurden (vgl. BT-Drucks 10/1746, S. 14f.).

Da der Anspruch des Klägers nicht verjährt ist, kann offenbleiben, inwieweit die Berufung der Beklagten auf die Verjährung den Voraussetzungen an die Begründung dieser Ermessensentscheidung (hierzu BSG vom 5. Mai 1993, 9/9a RV 12/92) entspricht.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.10 RKg 6/93

BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

BSGE, 103

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