Leitsatz (amtlich)

Nachträglich bekanntgewordene Tatsachen, die zu einer Steuerminderung führen, liegen nach einer vorangegangenen Gewinnschätzung dann vor, wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der Tatsachen eine niedrigere Steuer ergibt (Anschluß an BFH-Urteil vom 28.März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120).

Hat das Finanzamt den laufenden Gewinn und den Veräußerungsgewinn im Sinne des § 16 EStG geschätzt, so sind beide Gewinnbeträge je eine Tatsache im Sinne des § 173 Abs.1 Nr.1 und Nr.2 AO 1977.

 

Orientierungssatz

1. Als grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn er die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt. Ein grobes Verschulden kann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seine Erklärungspflicht schlecht erfüllt, indem er unzutreffende oder unvollständige Erklärungen abgibt. Es besteht insbesondere auch dann, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht nachkommt (vgl. BFH-Rechtsprechung). Das Verschulden des Steuerpflichtigen am nachträglichen Bekanntwerden der Besteuerungsgrundlage wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß das FA möglicherweise seine diesbezüglichen Aufklärungspflichten nicht beachtet hat.

2. Ein Änderungsbescheid zugunsten des Steuerpflichtigen (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977) kann nicht ergehen, obwohl eine neue Tatsache, die zu einer niedrigeren Steuer führt, und eine weitere neue Tatsache, die zu einer höheren Steuer führt, insgesamt eine niedrigere Steuer ergeben würden, wenn beide Tatsachen nicht in einem mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang stehen, so daß eine ohne die andere denkbar ist, und wenn die (neue) Tatsache mit günstiger Steuerauswirkung durch grobes Verschulden des Steuerpflichtigen dem FA nachträglich bekanntgeworden ist (grobes Verschulden nicht gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 unschädlich).

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nrn. 1-2; EStG § 16

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb im Streitjahr ein ....geschäft, das er zum 31.August 1978 veräußerte. Wegen Nichtabgabe der Erklärung des gesondert festzustellenden Gewinns für das Streitjahr 1978 schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) im Bescheid über die gesonderte Gewinnfeststellung desselben Jahres einen laufenden Gewinn von 40 000 DM und einen Veräußerungsgewinn von 200 000 DM. Der Bescheid wurde dem Kläger am 23.Januar 1980 persönlich zugestellt.

Am 12.Januar 1981 beantragte der Kläger unter Vorlage des Jahresabschlusses per 31.August 1978, der einen laufenden Gewinn von 69 740,13 DM und einen Veräußerungsgewinn von 40 752 DM auswies, die Änderung des gesonderten Gewinnfeststellungsbescheids 1978. Das FA lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 6.März 1981 mit der Begründung ab, die Voraussetzungen für eine Änderung des Gewinnfeststellungsbescheids nach § 173 Abs.1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) lägen nicht vor; denn der Kläger habe die verspätete Abgabe der Gewinnfeststellungserklärung grob verschuldet. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, der Gewinnfeststellungsbescheid 1978 könne nicht nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 geändert werden, weil den Kläger ein grobes Verschulden daran treffe, daß die neuen Tatsachen durch die Vorlage des Jahresabschlusses 1978 erst nachträglich bekanntgeworden seien.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Das FA habe seine Aufklärungspflicht nicht erfüllt, weil es die Schätzung durchgeführt habe, ohne Ermittlungen über die Höhe des Veräußerungserlöses beim Käufer des Betriebs angestellt zu haben. Er --der Kläger-- habe sich auf die zuverlässige Arbeitsweise seines Buchhalters verlassen dürfen, weil er ihn in regelmäßigen Abständen an die Erfüllung seiner Pflichten erinnert habe. Erst später habe sich herausgestellt, daß sein Buchhalter das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt habe. Deshalb treffe ihn --den Kläger-- am nachträglichen Bekanntwerden der neuen Tatsachen weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit. Entgegen der Meinung des FG käme es nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 auch nicht darauf an, daß die neuen Tatsachen erst lange Zeit nach der Zustellung des Gewinnfeststellungsbescheids bekanntgeworden seien.

Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des FG-Urteils das FA zu verurteilen, den Gewinnfeststellungsbescheid 1978 dahin abzuändern, daß der Gewinn entsprechend seiner Erklärung festgesetzt wird.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das FA konnte den Bescheid über die gesonderte Gewinnfeststellung 1978 nicht nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 ändern.

Ein Steuerbescheid ist nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen erst nachträglich bekanntwerden.

a) Tatsache im Sinne des § 173 Abs.1 Nr.1 oder 2 AO 1977 ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Ob eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache zu einer niedrigeren Steuer (bzw. zu einem niedrigeren Gewinnansatz im Gewinnfeststellungsbescheid) führt, hängt davon ab, von welchen Tatsachen bisher bei der Besteuerung (Gewinnfeststellung) ausgegangen worden ist. Dabei ergeben sich Besonderheiten, wenn die Steuerfestsetzung auf der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen beruht. Da der Besteuerung in einem solchen Fall kein bestimmter Tatsachenstoff zugrunde liegt, läßt sich nicht sagen, daß ein neu bekanntgewordener Vorgang zu den bisher berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen hinzutrete und das steuerliche Ergebnis in bestimmter Weise verändere. Vielmehr kann erst nach Kenntnis aller den Veranlagungszeitraum berührenden Vorgänge und ihrer steuerlichen Auswirkungen gesagt werden, ob die bisher festgesetzte Steuer zu erhöhen oder zu ermäßigen ist. Deshalb liegen nach einer vorangegangenen Gewinnschätzung nachträglich bekanntgewordene Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, nur dann vor, wenn sich aus der Gesamtwürdigung der Tatsachen eine niedrigere Steuer ergibt (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28.März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120).

Im Streitfall handelt es sich sowohl bei der Höhe des laufenden Gewinns als auch bei der Höhe des Veräußerungsgewinns um Tatsachen im Sinne des § 173 Abs.1 AO 1977, die für die Frage, ob sie zu einer höheren oder niedrigeren Einkommensteuer führen, gesondert zu beurteilen sind. Denn das FA hat beide Gewinnbeträge wegen des unterschiedlichen Steuertarifs getrennt im Schätzungswege ermittelt und getrennt im gesonderten Feststellungsbescheid angesetzt; dadurch besteht für jeden dieser Gewinne die Möglichkeit, die steuerlichen Auswirkungen festzustellen, sobald die später erklärten Gewinne bekannt sind. Danach ist im Streitfall der den Veräußerungsgewinn betreffende Vorgang eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache im Sinne des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977, die zu einer niedrigeren Steuer führt.

b) Das FG hat zutreffend entschieden, daß den Kläger ein grobes Verschulden daran trifft, daß die Höhe des Veräußerungsgewinns dem FA verspätet bekanntgegeben worden ist. Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn er die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (BFH-Urteil vom 3.Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Ein grobes Verschulden kann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seine Erklärungspflicht schlecht erfüllt, indem er unzutreffende oder unvollständige Erklärungen abgibt (Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324; vom 28.Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2, und vom 29.Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693). Es besteht insbesondere auch dann, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht überhaupt nicht nachkommt (BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120).

Ob der Kläger im Streitfall grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können mangels durchgreifender Verfahrensrügen in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff des groben Verschuldens richtig erkannt ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Insoweit bestehen gegen die Entscheidung des FG keine Bedenken.

Der Kläger hat seine Erklärungspflichten unstreitig nicht rechtzeitig erfüllt, ohne daß dafür hinreichende Entschuldigungsgründe vorgebracht worden oder sonst erkennbar sind. Daß der Kläger möglicherweise in der Zeit nach der Zustellung des Gewinnfeststellungsbescheids aus persönlichen Gründen nicht in der Lage war, seine steuerlichen Erklärungspflichten zu erfüllen, ist für die Entscheidung des Falles unerheblich. Ein grobes Verschulden hinsichtlich des nachträglichen Bekanntwerdens der neuen Tatsachen trifft ihn dann, wenn er seinen Erklärungspflichten bis zum Erlaß des Bescheids nicht nachgekommen ist.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, daß er die Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten seinem Buchhalter übertragen und dieser seine Verpflichtungen stets pünktlich und sorgfältig erfüllt habe; denn er hat das Verschulden einer in seinem Betrieb angestellten Person als eigenes Verschulden zu vertreten.

Entgegen der Auffassung des Klägers wird sein Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Besteuerungsgrundlage auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß das FA möglicherweise seine diesbezüglichen Aufklärungspflichten nicht beachtet hat.

c) Nach § 173 Abs.1 Nr.2 Satz 2 AO 1977 ist das grobe Verschulden des Steuerpflichtigen jedoch unschädlich, wenn die ihm günstigen Tatsachen in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit anderen Tatsachen stehen, die zu einer höheren Steuer führen. Ein solcher Zusammenhang zwischen Tatsachen, die zu einer höheren, und Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, liegt dann vor, wenn der steuererhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar ist (Urteil in BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt. Zwar stellt die Höhe des laufenden Gewinns eine neue Tatsache dar, die zu einer höheren Gewinnfestsetzung und damit zu einer höheren Einkommensteuer führt, sie bedingt hier jedoch nicht ursächlich die Höhe des Veräußerungsgewinns, die eine niedrigere Einkommensteuer zur Folge hätte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61269

BStBl II 1987, 161

BFHE 148, 208

BFHE 1987, 208

BB 1987, 327

BB 1987, 327-327 (ST)

DB 1987, 771-772 (ST)

DStR 1987, 194-194 (ST)

HFR 1987, 111-111 (ST)

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge