Entscheidungsstichwort (Thema)

Durchführung der mündlichen Verhandlung trotz erkennbarer Verspätung eines Beteiligten

 

Leitsatz (NV)

Ist erkennbar, daß sich ein Verfahrensbeteiligter im Termin zur mündlichen Verhandlung verspäten wird, so wird sein Recht auf Gehör nicht verletzt, wenn das FG 25 Minuten nach dem angekündigten Zeitpunkt ohne ihn mit der mündlichen Verhandlung beginnt.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 119 Nr. 3

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist als Steuerbevollmächtigte selbständig tätig. Für die Jahre 1977 und 1978 hat sie keine Erklärungen zur Einkommen- und Umsatzsteuer abgegeben. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) veranlagte sie daraufhin im Wege der Schätzung. Im Einspruchsverfahren reichte die Klägerin Steuererklärungen nach. Das FA erkannte einige Ausgabeposten jedoch nicht oder nicht in vollem Umfang als Betriebsausgaben an und gewährte der Klägerin für ihren Sohn mangels Nachweises auch keine Ausbildungsfreibeträge; bei der Umsatzsteuer wurden geltend gemachte Vorsteuerbeträge zum Teil nicht berücksichtigt, weil sie auf private Vorgänge entfielen.

Die gegen die auf dieser Grundlage ergangenen Einspruchsbescheide gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg. Im Einverständnis mit dem Prozeßvertreter des FA berücksichtigte das Gericht 50 v. H. der strittigen Betriebsausgaben und der strittigen Vorsteuerbeträge als betrieblich veranlaßt und setzte die Steuerschuld anderweitig fest. Die Klägerin war zum Verhandlungstermin nicht erschienen.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung des rechtlichen Gehörs. Sie habe sich in ihrem Wohnort X bereits zwei Stunden vor Terminbeginn auf die Fahrt zum Gerichtsort Münster begeben. Infolge von drei Verkehrsstockungen sei sie jedoch nicht rechtzeitig zum Termin erschienen. Sie habe dem Vertreter des FA aber am Vortage mitgeteilt, daß sie den Termin wahrnehmen wolle. Dieser habe ihre Absicht offenbar dem Gericht nicht mitgeteilt. Jedenfalls hätte das Gericht angemessene Zeit mit dem Beginn der Verhandlung warten müssen. Im übrigen rügt die Klägerin, daß das FA bei seiner Schätzung die maßgeblichen Umstände nicht hinreichend berücksichtigt habe; auch die Schätzung des Gerichts trage ihnen nicht hinreichend Rechnung.

Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Einkommen- und Umsatzsteuer 1977 und 1978 nach Maßgabe der Steuererklärungen festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Das Finanzgericht (FG) habe den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht verletzt. Der Prozeßvertreter des FA habe das Gericht auf die Absicht der Klägerin hingewiesen, den Termin wahrzunehmen. Das Gericht habe daraufhin noch 25 bis 30 Minuten gewartet. Die Fahrzeit zwischen X und Münster betrage etwa 45 Minuten. Das Gericht habe nicht damit rechnen können, daß die Klägerin erst eine Stunde nach dem angesetzten Termin erscheine. Im übrigen habe das FG seiner Aufklärungspflicht genügt; die seitens des FA vorgenommenen Zuschätzungen seien nicht zu beanstanden.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Revision ist zulässig, weil die Revisionssumme von 10 000 DM (§ 115 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -, Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs) erreicht ist. Das FA hat bei seiner Berechnung ersichtlich die steuerlichen Folgen nicht berücksichtigt, die sich aus dem behaupteten Ausbildungsverhältnis des Sohnes der Klägerin ergeben.

2. Die Klägerin rügt, das FG habe ihr Prozeßgrundrecht auf rechtliches Gehör verletzt; träfe diese Rüge zu, wäre das FG-Urteil ohne weiteres aufzuheben (§ 119 Nr. 3 FGO). Aus dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich ein solcher Verstoß jedoch nicht.

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gebietet, daß die Prozeßbeteiligten Gelegenheit erhalten, sich vor Erlaß der gerichtlichen Entscheidung zu äußern. Diese Gelegenheit ist in der Regel gegeben, wenn mündliche Verhandlung anberaumt, der Verhandlungstermin den Beteiligten bekanntgegeben und mit der Verhandlung zum angekündigten Zeitpunkt begonnen wird. Ist für das Gericht allerdings erkennbar, daß ein Beteiligter sich verspäten wird, kann es in der prozessualen Fürsorgepflicht liegen, noch angemessene Zeit mit der Durchführung des Termins zu warten (vgl. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 14. Februar 1979 1 C 20/77, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1979, 1619). Für Straf- und Bußgeldverfahren wird in diesem Zusammenhang eine Frist von 15 Minuten genannt (vgl. Kaiser, NJW 1977, 1955, m. w. N.). Das BVerwG hat 10 Minuten als ausreichend angesehen (Urteil vom 22. Juni 1984 8 C 1/83, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR 1986, 31). Ein erheblich längeres Zuwarten verbietet sich, weil das Gericht auch Rücksicht auf die bereits erschienenen Beteiligten sowie auf die Beteiligten noch anstehender anderer Termine nehmen muß.

Im Streitfall hat die Klägerin im Revisionsverfahren nicht angegeben, wann sie schließlich bei Gericht eingetroffen ist; dies wäre aber zur Begründung der Revisionsrüge erforderlich gewesen. Das FA hat hierzu erklärt, die Klägerin sei erst etwa eine Stunde später erschienen und das Gericht habe 25 bis 30 Minuten gewartet. Das Verhalten des FG wäre unter diesen Umständen nicht zu beanstanden. Zudem hätte die Klägerin, wäre sie unvorhergesehen aufgehalten worden, von unterwegs die Geschäftsstelle des Senats anrufen und von der Verspätung unterrichten können. Dem FG konnte die Verkehrsbehinderung nicht bekannt sein.

3. Eine Verletzung seiner Aufklärungspflicht kann dem FG nicht vorgehalten werden. Der Klägerin war bekannt, aus welchen Gründen das FA bestimmte Betriebsausgaben nicht berücksichtigen wollte. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, hierzu im Rahmen des Klageverfahrens Stellung zu nehmen; der Aufklärungspflicht des Gerichts entspricht eine Mitwirkungspflicht des Klägers gerade in Bereichen, über die nur er Auskunft geben kann. An einer solchen Mitwirkung hat es die Klägerin fehlen lassen.

Es ist daher nicht zu beanstanden, daß sich das Gericht bei seiner Entscheidung auf die Auswertung der Steuerakten beschränkt hat. Es hat dabei von den strittigen Betriebsausgaben noch 50 v. H. zugunsten der Klägerin berücksichtigt. Damit ist auch der von der Klägerin vorgetragenen betrieblichen Mitveranlassung der Raumkosten und der Ausgaben für Zeitschriften Rechnung getragen, sowie auch ein höherer Anteil der Kfz-Kosten als betrieblich veranlaßt berücksichtigt worden. Den verlangten Abzug eines Ausbildungsfreibetrags für den Sohn konnte das FG ohne Rechtsfehler versagen, weil die Klägerin gehalten war, das Ausbildungsverhältnis durch unschwer zu erlangende Bescheinigungen nachzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414388

BFH/NV 1987, 649

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