Leitsatz (amtlich)

Der gemeine Wert nichtnotierter Anteile an Kapitalgesellschaften kann grundsätzlich nicht aus Verkäufen abgeleitet werden, die erst nach dem Bewertungsstichtag abgeschlossen worden sind. Dies ist ausnahmsweise nur dann möglich, wenn der formelle Vertragsabschluß kurz nach dem Stichtag liegt und die Einigung über den Kaufpreis schon am Bewertungsstichtag herbeigeführt war.

 

Normenkette

BewG 1965 i.d.F. vor dem VStRG 1974 § 11 Abs. 2

 

Tatbestand

Streitig ist der gemeine Wert der Aktien der Beigeladenen und Revisionsklägerin zu 3 (Beigeladene) am 31. Dezember 1968. Diese Aktien wurden an diesem Stichtag nicht an einer deutschen Börse gehandelt. Die Klägerin und Revisionsklägerin zu 1 (Klägerin) erwarb durch Vertrag vom 23. Januar/5. Februar 1969 von insgesamt acht Aktionären nominal X DM Aktien der Beteiligten zum Kurs von 650 v. H. Noch im Jahre 1969 sowie im Jahr 1970 erhöhte die Klägerin durch Aktienerwerb aus unterschiedlichen Rechtsgründen ihren Anteilsbesitz an der Beigeladenen, so daß sie bis zum Mai 1971 insgesamt 98,3 v. H. des Grundkapitals besaß. Soweit bei diesen Geschäften eine Gegenleistung für die Aktien bestimmt wurde, zahlte die Klägerin zwischen 500 v. H. und 580 v. H. der jeweils erworbenen Nominalwerte.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) stellte den gemeinen Wert der Aktien zum 31. Dezember 1968 gegenüber der Beigeladenen allgemein auf 500 DM je 100 DM Grundkapital und gegenüber dem Kläger, seinem verstorbenen Vater sowie einem weiteren Gesellschafter, der eine besonders große Beteiligung hielt, auf 625 DM je 100 DM Grundkapital fest. Beiden Wertfeststellungen lagen Verkäufe, insbesondere die vom Januar/Februar 1969 zugrunde.

Einspruch und Klage, mit denen die Kläger beantragten, den gemeinen Wert der Aktien an der Beigeladenen nach dem Stuttgarter Verfahren einheitlich auf 267 DM je 100 DM Grundkapital festzustellen, hatten keinen Erfolg.

Mit der Revision rügen die Kläger und die Beigeladene, das FG habe dadurch das Stichtagsprinzip verletzt, daß es Verkäufe nach dem Feststellungszeitpunkt für die Bewertung der Aktien zum Feststellungszeitpunkt herangezogen habe. Die in früheren Entscheidungen des BFH vertretene Auffassung, daß Verkäufe um den Stichtag, also vor und nach dem Stichtag für die Ermittlung des gemeinen Werts von Anteilen an Kapitalgesellschaften herangezogen werden könnten, möge für die Zeit vor 1963 angehen, weil seinerzeit Anteile an Kapitalgesellschaften nur im Abstand von drei Jahren bewertet worden seien. Seit Einführung der jährlichen Bewertung bestehe keine Veranlassung mehr, das Stichtagsprinzip durch Berücksichtigung späterer Ereignisse zu erweitern.

Die Revisionskläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und den gemeinen Wert der Aktien der Beigeladenen zum 31. Dezember 1968 unter Berücksichtigung ihres Vermögens und der Ertragsaussichten auf 267 DM je 100 DM Grundkapital festzustellen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision wird die Vorentscheidung aufgehoben.

1. Die Aktien der Beigeladenen waren am 31. Dezember 1968 nicht zum amtlichen Börsenhandel zugelassen. Sie sind deshalb nach § 11 Abs. 2 Satz 1 des Bewertungsgesetzes 1965 (BewG) in der für den Streitfall maßgebenden Fassung vor dem Vermögensteuerreformgesetz 1974 - im folgenden Bewertungsgesetz - mit dem gemeinen Wert zu bewerten. Der gemeine Wert wird durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für die Aktien zu erzielen wäre (§ 9 Abs. 2 BewG). Aus diesem Grund sieht § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG vor, daß der gemeine Wert in erster Linie aus tatsächlich abgewikkelten Verkäufen der zu bewertenden Aktien abzuleiten ist. Liegen solche Verkäufe nicht vor, so ist der gemeine Wert der Anteile unter Berücksichtigung des Vermögens und der Ertragsaussichten der Gesellschaft zu schätzen.

Aus der Fassung des Gesetzes ergibt sich, daß die Bewertung von nichtnotierten Anteilen an Kapitalgesellschaften aufgrund von Verkäufen den Vorrang vor der Schätzung des gemeinen Werts unter Berücksichtigung des Vermögens und der Ertragsaussichten hat (vgl. auch BFH-Entscheidung vom 26. Juli 1974 III R 16/73, BFHE 113, 59, BStBl II 1974, 656). Dies gilt jedoch nicht schlechthin. Denn für die Auslegung des § 11 Abs. 2 BewG ist, wie für Auslegungen jeder Rechtsvorschrift, auch der Sinnzusammenhang zu berücksichtigen, in dem die Vorschrift steht. Der mit § 11 BewG im Zusammenhang stehende § 112 BewG schreibt vor, daß die Bewertung zu einem bestimmten Stichtag durchzuführen ist, nämlich zum 31. Dezember des Jahres, das dem Veranlagungszeitpunkt vorausgeht. Daraus ergibt sich, daß für die Anwendung des Bewertungsmaßstabs "gemeiner Wert" und die Methode zur Ermittlung des gemeinen Werts die Verhältnisse vom Bewertungsstichtag maßgebend sind (vgl. auch §§ 12 Abs. 2, 13 Abs. 2 und 14 Abs. 2 VStG i. d. F. vor dem Vermögensteuerreformgesetz 1974). Nach diesen Verhältnissen ist zu entscheiden, ob der gemeine Wert aus Verkäufen abgeleitet werden kann und muß oder ob mangels Verkäufen eine Schätzung durchzuführen ist.

2. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats, daß der gemeine Wert aus zeitnahen Verkäufen um den Bewertungsstichtag abzuleiten ist, d. h. auch aus Verkäufen, die verhältnismäßig kurze Zeit nach dem Stichtag durchgeführt worden sind (vgl. BFH-Entscheidungen vom 14. Februar 1969 III 88/65, BFHE 95, 334, BStBl II 1969, 395; vom 25. Juni 1965 III 384/60, HFR 1966, 1; vom 16. Juli 1965 III 209/61, HFR 1966, 4). Diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch auf Wertfeststellungen, die aufgrund § 69 Abs. 1 BewG i. d. F. vor dem Gesetz zur Änderung des Bewertungsgesetzes vom 10. August 1963 (BGBl I 1963, 676, BStBl I 1963, 608) für den ganzen Hauptveranlagungszeitraum maßgebend waren. Nur so ist es verständlich, daß der Senat in dem Urteil III 209/61 (a. a. O. S. 5) ausführte, die Einbeziehung von Verkäufen während des ganzen dem Stichtag folgenden Jahres scheine bedenklich; denn wenn zum Ende dieses Folgejahres eine neue Bewertung durchzuführen gewesen wäre, so wäre es nicht nur bedenklich, sondern offensichtlich der Rechtslage widersprechend, aus Verkäufen des ganzen dem Stichtag folgenden Kalenderjahres den gemeinen Wert an dem zurückliegenden Stichtag abzuleiten. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob er für Bewertungsstichtage vor dem 31. Dezember 1962 an der bisherigen Rechtsprechung festhalten würde, daß auch Anteilsverkäufe, die zeitlich nicht allzu weit nach dem Stichtag stattgefunden haben, für die Ermittlung des gemeinen Werts zum Stichtag herangezogen werden können. Er ist jedoch für die seit dem Gesetz zur Änderung des Bewertungsgesetzes vom 10. August 1963 gegebene Rechtslage, wonach nichtnotierte Anteile an Kapitalgesellschaften zum Ende jedes Kalenderjahres bewertet werden, der Meinung, daß Verkäufe nach dem Bewertungsstichtag für die Ermittlung des gemeinen Werts an dem vorhergehenden Stichtag grundsätzlich außer Betracht bleiben müssen. Er schließt sich der von dem Kläger und in der Literatur (vgl. Gürsching-Stenger, Kommentar zum Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, 6. Aufl., § 11 BewG Anm. 47) vertretenen Auffassung an, daß damit ein zweiter Stichtag für die Anteilsbewertung geschaffen würde, der weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus der Systematik des Gesetzes begründet und zeitlich begrenzt werden könnte.

3. Dies schließt allerdings nicht aus, daß in Ausnahmefällen doch ein Verkauf, der formell erst nach dem Bewertungsstichtag abgeschlossen wurde, geeignet sein kann, daraus den gemeinen Wert der Anteile am Bewertungsstichtag abzuleiten. Das FA hat zutreffend dargelegt, daß die Verkaufsverhandlungen über nichtnotierte Anteile an Kapitalgesellschaften nicht in wenigen Stunden vorbereitet und abgeschlossen zu werden pflegen. Regelmäßig gehen ihnen längere Verhandlungen voraus, so daß die Einigung über den Kaufpreis, der dem förmlichen (bei GmbH-Anteilen beurkundeten) Vertragsabschluß zugrunde liegt, schon am Bewertungsstichtag zustande gekommen sein kann. Allerdings wird dies im allgemeinen nur dann angenommen werden können, wenn der förmliche Kaufabschluß kurz nach dem Stichtag stattfindet.

4. Das FG hat festgestellt, daß die Klägerin von insgesamt acht Aktionären durch schriftlichen Vertrag vom 23. Januar/5. Februar 1969 nominal X DM Aktien erworben hat. Es brauchte von seiner Rechtsauffassung ausgehend nicht festzustellen, ob aufgrund der Vorverhandlungen zu diesem Kaufvertrag angenommen werden kann, daß die für die Ermittlung des gemeinen Werts maßgebende Einigung über den Kaufpreis schon am Bewertungsstichtag herbeigeführt war. Auf den Zeitpunkt dieser Einigung kommt es aber an, wenn der förmliche Kaufabschluß vom 23. Januar/5. Februar 1969 als Grundlage für die Feststellung des gemeinen Werts der Anteile an der Beigeladenen herangezogen werden soll.

Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausging, war seine Entscheidung aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif; sie geht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück, damit dieses die erforderlichen Feststellungen treffen kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71775

BStBl II 1976, 280

BFHE 1976, 234

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