Entscheidungsstichwort (Thema)

Neue Tatsachen i. S. v. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gegenüber einer Schätzung von Besteuerungsgrundlagen

 

Leitsatz (NV)

1. Tatsachen i. S. v. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sind auch die für einen Vermögensvergleich erforderlichen vom Außenprüfer erstmals festgestellten tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen und der sich daraus ergebende, gegenüber einer ursprünglichen Schätzung wesentlich höhere Vermögenszuwachs.

2. Das FA muß im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 Feststellungen eines Außenprüfers nur dann als bekannt gegen sich gelten lassen, wenn es diesbezüglich seine Ermittlungspflicht verletzt hat und der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 162

 

Verfahrensgang

FG München

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind verheiratet und leben im Güterstand der Gütergemeinschaft. In das Gesamtgut fällt ein Betrieb der Land- und Forstwirtschaft, den die Kläger von den Eltern des Klägers am 21. Januar 1965 übernommen haben. Bei der Einkommensbesteuerung der Kläger wurden folgende Gewinne bzw. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft berücksichtigt:

Wirtschaftsjahr DM Kalenderjahr DM

1965/66 29 018 1965 21 314

1966/67 30 833 1966 27 525

1967/68 28 809 1967 29 821

1968/69 28 931 1968 28 870

1969/70 28 380 1969 28 656

1970/71 28 350 1970 28 365

1971/72 23 725 1971 26 037

1972/73 29 312 1972 26 519

1973/74 31 305 1973 30 308

1974/75 31 688 1974 31 496

1975/76 34 025 1975 32 856

1976/77 37 815

1977/78 38 284.

Sämtliche Einkommensteuerveranlagungen bis einschließlich 1975 wurden bestandskräftig.

Seit der Betriebsübernahme gaben die Kläger mit ihren Einkommensteuererklärungen die seit 1967 ,,Anlage L" genannte Anlage zur Einkommensteuererklärung für nichtbuchführungspflichtige oder nichtbuchführende Land- und Forstwirte ab. Die Kläger sind jedenfalls seit 1967 steuerlich beraten.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) ermittelte seit der Einkommensteuerveranlagung 1965 die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft ab dem Wirtschaftsjahr 1965/66 angelehnt an das Gesetz über die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft nach Durchschnittsätzen (GDL) bzw. im Rahmen einer Gewinnermittlung für Schätzungslandwirte durch Schätzungen.

In der Zeit vom 2. bis 10. Mai 1978 fand bei den Klägern eine Außenprüfung statt. Der Prüfer, der vom Bestehen einer Buchführungspflicht ausging, ermittelte den Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich gemäß § 4 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Im einzelnen kam er gegenüber den bisherigen Ansätzen zu folgenden Werten:

Wirtschaftsjahr 1973/74 1974/75 1975/76

DM DM DM

bisher 31 305 31 688 34 025

lt. Außenprüfung 52 843 52 756 93 448.

Eine gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte hielt der Prüfer im Hinblick auf den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 23. Juni 1971 I B 16/71 (BFHE 103, 24, BStBl II 1971, 730) nicht für erforderlich.

Das FA erließ daraufhin unter Ansatz entsprechend korrigierter Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Einkommensteuerbescheide 1973 bis 1975 je vom 5. Oktober 1978.

Im Hinblick auf die wegen Einkommensteuer 1973 bis 1975 anhängigen Verfahren erließ das FA am 2. April 1981 Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft 1973 bis 1975, in die es die Ergebnisse der Außenprüfung für die Wirtschaftsjahre 1973/74 bis 1975/76 einbezog.

Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), und zwar unabhängig davon, ob im Streitfall das FA die Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft 1973 bis 1975 nur bei Vorliegen einer Änderungsbefugnis gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 hätte erlassen dürfen (die Notwendigkeit einer Änderungsbefugnis befürwortend z. B. BFH-Urteil vom 27. Juni 1963 IV 442/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1965, 122 = Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 222, Rechtsspruch 234; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Juni 1982 I 369/79, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1982, 549; FG München, Urteil vom 23. September 1983 V 431/82 F, EFG 1984, 160; dahingestellt in BFH-Urteil vom 11. Oktober 1984 IV R 153/82, BFHE 142, 398, BStBl II 1985, 189; möglicherweise verneinend FG München, Urteil vom 9. April 1984 VII (XIII) 273/81 F, EFG 1984, 479). Denn der vom Außenprüfer für die Wirtschaftsjahre 1973/74 bis 1975/76 festgestellte erhebliche Vermögenszuwachs bzw. die ihn tragenden tatsächlichen Umstände stellen nachträglich bekanntgewordene Tatsachen i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 dar.

a) Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Keine Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift sind Schlußfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen. Zu den Schlußfolgerungen gehören auch Schätzungen (BFH-Urteil vom 28. März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120), im Gegensatz zu den tatsächlichen Grundlagen, auf denen sie beruhen. Solche tatsächlichen Grundlagen sind auch die für einen Vermögensvergleich erforderlichen vom Außenprüfer erstmals festgestellten tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen und der sich daraus ergebende, gegenüber einer ursprünglichen Schätzung wesentlich höhere Vermögenszuwachs einschließlich der festgestellten Einlagen und Entnahmen. Zur Vermeidung von Wiederholungen bezieht sich der Senat insoweit zur Begründung auf seine ständige Rechtsprechung (Urteile vom 22. September 1960 IV 249/59 U, BFHE 71, 716, BStBl III 1960, 516; vom 24. Oktober 1985 IV R 75/84, BFHE 145, 302, BStBl II 1986, 233; vom 14. November 1985 IV R 27/84, BFH/NV 1986, 252; Beschluß vom 3. Dezember 1981 IV R 99/77, BFHE 135, 45, BStBl II 1982, 273).

Nach diesen Grundsätzen beurteilt, erfüllen die vom Prüfer festgestellten Umstände und der daraus resultierende Vermögenszuwachs das Merkmal ,,Tatsache" i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Denn die durch den Prüfer festgestellten Vermögenszuwächse sind gegenüber den bisher berücksichtigten derart erheblich, daß sie nicht mehr dem einer Schätzung anhaftenden Unschärfebereich zugeordnet werden können. Es ist klar erkennbar und bedarf keiner näheren Erläuterung, daß das FA bei deren Kenntnis die Schätzung nicht so wie geschehen, sondern vielmehr so wie der Außenprüfer vorgenommen hätte. Unerheblich ist, daß zur Feststellung der Tatsache vom Außenprüfer eine andere Methode angewandt wurde, als bei den ursprünglichen Einkommensteuerfestsetzungen vom FA. Denn die ursprüngliche Schätzung ist jeweils ohne Berücksichtigung der für einen Vermögensvergleich rechtserheblichen, vom Außenprüfer nachträglich festgestellten Tatsachen erfolgt (vgl. auch BFH-Urteil vom 2. März 1982 VIII R 225/80, BFHE 136, 28, BStBl II 1984, 504, 508).

b) Die vom Außenprüfer festgestellten Besteuerungsgrundlagen und die daraus folgenden Vermögenszuwächse sind dem FA i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 auch nachträglich, d. h. nach Erlaß der ursprünglichen Einkommensteuerbescheide 1973 bis 1975 bekanntgeworden. Das FA muß die Feststellungen des Außenprüfers nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben als bekannt gegen sich gelten lassen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn das FA seine Ermittlungspflicht verletzt hätte (§ 88 AO 1977, § 204 Abs. 1 AO; vgl. dazu z. B. BFH-Urteile vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241; vom 6. November 1963 I 365/61 U, BFHE 78, 35, BStBl III 1964, 13; FG München in EFG 1984, 160; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 173 AO 1977 Tz. 28) und der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen wäre.

Im Streitfall haben die Kläger aber in erheblichem Umfang ihre Mitwirkungspflichten verletzt. Sie sind ihrer Steuererklärungspflicht insbesondere dadurch nicht nachgekommen, daß sie den Steuererklärungen, wiewohl buchführungspflichtig, nicht die in § 56 Abs. 2 bis 4 der Einkommensteuer - Durchführungsverordnung (EStDV) 1971/1974/1975 aufgeführten Unterlagen (insbesondere Bilanzen, Verlust- und Gewinnrechnungen) beigefügt haben. Daß die Kläger auch bezüglich der vom Außenprüfer geprüften Wirtschaftsjahre buchführungspflichtig waren, hat der Senat für vergleichbare Fälle bereits wiederholt entschieden (zuletzt für steuerlich beratene Land- und Forstwirte, BFH-Urteil vom 24. Oktober 1985 IV R 101/83, BFH/NV 1987, 410). Unstreitig haben die Kläger ununterbrochen seit dem Wirtschaftsjahr 1965/66 die Buchführungsgrenze nach § 161 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e AO überschritten. Dies ist durch entsprechende Veranlagungen i. S. von § 1 Abs. 2 und 4 der Verordnung über landwirtschaftliche Buchführung (LwBuchfV) vom 5. Juli 1935 (RGBl I, 908) auch festgestellt worden. Daß es sich um vom FA geschätzte Gewinne handelte, hat dabei keine Bedeutung. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat diesbezüglich zur Begründung auf seine Entscheidung in BFHE 145, 302, BStBl II 1986, 233. Da die Kläger nach den unwidersprochen gebliebenen Feststellungen des FG steuerlich beraten waren, bedurfte es nach Treu und Glauben des nur für den steuerlich unerfahrenen Land- und Forstwirt gedachten vorherigen Hinweises des FA auf die Buchführungspflicht nicht (BFH-Urteil vom 25. April 1985 IV R 92/82, BFHE 143, 404, BStBl II 1985, 486).

Das FA mußte nach den Steuererklärungen der Kläger davon ausgehen, daß keine Buchführung eingerichtet und die nachträgliche Entwicklung eines Bestandsvergleichs jedenfalls vom Schreibtisch aus, wenn überhaupt, nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich war (vgl. zur Zumutbarkeit m. w. N. zur Rechtsprechung des BFH Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 88 AO 1977 Rdnrn. 53 ff.). Vom FA kann nicht verlangt werden, daß es von vornherein zur Tatsachenermittlung einen Außenprüfer einsetzt. Dies hat der BFH wiederholt bzgl. der Feststellung neuer Tatsachen ausgesprochen (Urteile vom 24. Oktober 1972 VIII R 8/69, BFHE 108, 143, BStBl II 1973, 275; vom 13. August 1970 V R 56/67, BFHE 99, 514, BStBl II 1970, 767; vgl. auch Urteil vom 8. November 1984 IV R 33/82, BFHE 142, 366, BStBl II 1985, 352).

Auch daraus, daß sich das FA die Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen nicht nach § 100 Abs. 2 AO offenhielt, kann nicht die Unzulässigkeit einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 hergeleitet werden. Denn es gibt keinen Rechtssatz des Inhalts, wonach § 173 AO 1977 nur zur Anwendung kommen kann, wenn zuvor das Verfahren nach § 164 AO 1977 bzw. § 100 Abs. 2 AO eingeschlagen wurde. Aus dem Ergehen eines endgültigen vorbehaltlosen Bescheides ist nicht zu schließen, das FA werde später bekanntwerdende Tatsachen nicht verwerten (vgl. BFH-Urteil vom 11. Juli 1978 VIII R 120/75, BFHE 125, 488, BStBl II 1979, 57).

 

Fundstellen

Haufe-Index 415410

BFH/NV 1988, 346

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