Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschäftsführerhaftung bei Vertrauen auf Steuerguthaben

 

Leitsatz (NV)

Der Geschäftsführer einer GmbH haftet nicht für nicht abgeführte Lohnsteuer, wenn er darauf vertrauen konnte, daß die Steuerschuld aus einem Umsatzsteuerguthaben der GmbH getilgt würde, er einen entsprechenden Verrechnungsantrag gestellt hatte und das FA in der Vergangenheit derartige Verrechnungen vorgenommen hatte.

 

Normenkette

AO § 109 Abs. 1; AO 1977 § 69

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war Geschäftsführer einer GmbH mit Sitz in E. Er war für den gesamten kaufmännisch-steuerlichen Bereich des Unternehmens zuständig, während einem weiteren Geschäftsführer der technische Aufgabenbereich übertragen war. Die GmbH war die Schwestergesellschaft einer in W betriebenen Planungs- und Beratungs-GmbH, mit der sie in der Weise zusammenwirkte, daß sie bei der Errichtung von . . . als Generalunternehmer auftrat. Aufgrund eines Vertrages zwischen den beiden Firmen erfolgte die gesamte Buchhaltung und Buchführung einschließlich der zu erstellenden Abschlüsse und Steueranmeldungen durch die W GmbH, die die betreffenden Erklärungen und Unterlagen sodann der E GmbH zur Unterschrift übersandte.

Die W GmbH stellte am 30. März 1974 Konkursantrag, der mangels Masse abgelehnt wurde. Am 17. Mai 1974 geriet auch die E GmbH in Konkurs. Das zunächst eröffnete Konkursverfahren wurde am 22. Mai 1975 mangels Masse eingestellt.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger durch Haftungsbescheid vom 23. Mai 1975 wegen nicht abgeführter Lohnsteuer, Ergänzungsabgabe, Kirchensteuer und Stabilitätszuschläge der von ihm vertretenen GmbH nach den §§ 103, 109 der Reichsabgabenordnung (AO) in Anspruch. Der Einspruch des Klägers führte zu einer Begrenzung des Haftungszeitraums und zur Minderung der Haftungssumme. Auch die Klage des Klägers, bei der sich noch der Haftungszeitraum Dezember 1973 bis April 1974 im Streit befand, hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) beschränkte die Haftung auf die Steuerabzugsbeträge für die Monate Februar bis April 1974 und auf den Haftungsbetrag von 120 507,55 DM. Zur Begründung führte es aus:

Für die Monate Dezember 1973 und Januar 1974 entfalle eine Haftung des Klägers nach § 109 Abs. 1 AO mangels Verschuldens. Aufgrund des testierten Wirtschaftsprüfungsberichts für das Jahr 1972 habe der Kläger davon ausgehen dürfen, daß zum 31. Dezember 1972 zugunsten der GmbH noch ein Umsatzsteuerguthaben aus Vorsteuerüberschüssen in Höhe von 85 516,57 DM bestanden habe. Von diesem Guthaben ausgehend ergebe sich für 1973 unter Gegenüberstellung der unstreitigen Umsatzsteuerbeträge, der geleisteten Lohnsteuerzahlungen Januar bis April und Juni bis August und der offenen Lohnsteuerforderungen für Mai und September bis Dezember ein Überschuß zugunsten der Firma von 160 296,92 DM. Gehe man - wofür einiges spreche - davon aus, daß auch die Lohnabzugsbeträge für Mai 1973 entrichtet worden seien, erhöhe sich der Überschuß zum Jahresende 1973 um 45 567,44 DM auf 205 864,36 DM. Unter Einbeziehung der Zahllasten für den Monat Januar 1974 (Umsatzsteuer: 2 128,20 DM, Lohnsteuer: 43 573,41 DM) ergebe sich für Januar 1974 noch ein Überschuß von 114 595,31 DM (bzw. 160 162,75 DM bei Annahme der Mai-Zahlung 1973). Der Kläger habe somit durch die Nichtabführung der Lohnabzugsbeträge für die Monate Dezember 1973 und Januar 1974 nicht schuldhaft gegen steuerliche Pflichten verstoßen, da keine Umstände dargetan worden oder erkennbar seien, daß er auf den Wirtschaftsprüfungsbericht nicht hätte vertrauen dürfen, und von seiten des FA keine Einwände gegen die von ihm beantragte Verrechnung erhoben worden seien.

Für den Zeitraum ab Februar 1974 habe der Kläger dagegen die ihm als gesetzlichen Vertreter der GmbH obliegenden steuerlichen Pflichten schuldhaft verletzt. Die Lohnabzugsbeträge für die Monate Februar und März 1974 seien zwar einbehalten, aber nicht abgeführt, die Abzugsbeträge für April 1974 seien noch nicht einmal einbehalten worden. Ab Februar 1974 hätten den Lohnsteueransprüchen des Staates keine aufrechenbaren Gegenansprüche mehr gegenüber gestanden. Durch die Umsatzsteuerzahllast für Februar 1974 von 1 133 258 DM sei das bisherige Guthaben von 114 595,31 DM bzw. 160 162,75 DM in jedem Fall vollständig aufgezehrt worden. Der Kläger habe ab diesem Zeitpunkt nicht mehr auf den Umsatzsteuerüberhang und damit auf eine Aufrechnungsmöglichkeit vertrauen können. Es habe ihm als dem für den kaufmännischen Bereich der Firma zuständigen Geschäftsführer bekannt sein müssen, daß für den Monat Februar 1974 aufgrund erbrachter Leistungen oder abgerechneter Aufträge eine außergewöhnlich hohe Umsatzsteuerzahllast auf die Gesellschaft zukommen würde. Wenn dem Kläger die Zahllast für den Monat Februar 1974 erst im Mai 1974 bekanntgeworden sei, so spreche dies dafür, daß er seinen Überwachungspflichten nicht in ausreichendem Maße nachgekommen sei, denn sonst hätte er feststellen müssen, daß entsprechend viele oder hohe Schlußrechnungen erteilt bzw. umsatzsteuerpflichtige Leistungen erbracht worden waren.

Vom Kläger verschuldet sei auch die unterbliebene Einbehaltung von Lohnabzügen im Monat April 1974. Die Unkenntnis des Klägers von den Besteuerungsmerkmalen der einzelnen Arbeitnehmer beruhe auf der Konzentrierung auch der Lohnbuchhaltung bei der W Schwestergesellschaft und der nicht ausreichenden Einflußnahme des Klägers auf die betreffenden Arbeiten dort. Im übrigen sei der Kläger nicht gehindert gewesen, die Besteuerungsmerkmale bei seinen Arbeitnehmern (z. B. durch Vorlage der letzten Lohnstreifen oder Abrechnungen) zu ermitteln und dementsprechend Abzüge einzubehalten und abzuführen.

Daß der Hauptkreditgeber der Gesellschaft, eine Bank in M, dem Kläger eine bedingte Zusage erteilt hätte, für dringende laufende Zahlungen Mittel bereitzustellen, könne ebenfalls nicht zu dessen Entlastung führen. Denn die Zusage sei nicht endgültig erteilt worden, sondern in der Weise bedingt gewesen, daß die Bank vor einer Auszahlung zuerst noch den Abschluß der Firma habe einsehen wollen, was die Möglichkeit eröffnet habe, von einer Kreditierung abzusehen.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen (§ 76 Abs. 1 und 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) und materiellen Rechts (§ 109 AO).

Die Auffassung des FG, daß er auf weitere Verrechnungsmöglichkeiten für die Lohnsteuerschulden nicht habe vertrauen dürfen, weil ihm die hohe Umsatzsteuerzahllast für den Monat Februar 1974 rechtzeitig erkennbar gewesen sei, berücksichtige nicht die besonderen Umstände bei der von ihm vertretenen GmbH, die im Hinblick auf den vom FG erhobenen Verschuldensvorwurf einer näheren Aufklärung bedurft hätten. Es erscheine auch abwegig, ein besonderes Risiko darin zu sehen und ihm dies zum Vorwurf zu machen, daß die Buchhaltung der GmbH außer Haus bei der W Schwesterfirma geführt worden sei. Diese Handhabung sei heute bei zahlreichen Unternehmen, die für ihre Buchführung die Angehörigen der steuerberatenden Berufe oder die DATEV einschalteten, üblich. Mit einer besonders hohen Umsatzsteuerzahllast für Februar 1974 habe er ohne Vorlage der Buchführung nicht rechnen können. Der nicht abgeführten Lohnsteuer für Februar und März 1974 in Höhe von 70 846,45 DM habe aber nach den Feststellungen des FG noch ein Umsatzsteuerguthaben von 160 162 DM gegenüber gestanden.

Die Nichteinbehaltung und Nichtabführung von Lohnabzugsbeträgen für den Monat April 1974 könne ihm ebenfalls nicht als schuldhaft angelastet werden. Da die bei der Schwesterfirma geführte Lohnbuchhaltung ausgefallen sei, habe er nur Abschlagszahlungen leisten können. Er habe darauf vertraut, die Mittel für die hierauf entfallenden Lohnabzugsbeträge aufgrund der Kreditzusage der X-Bank am Fälligkeitstag leisten zu können. Dem FG sei ein Irrtum unterlaufen, wenn es ausführe, er habe in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, daß die Bank zuvor den Abschluß der GmbH habe einsehen wollen. Deren Bedingung sei nicht der Abschluß, sondern die Vorlage der Lohnabrechnung gewesen. Die frühere Buchhalterin der Schwester-GmbH sei von ihm ersucht worden, die Lohnabrechnung für April 1974 zu erstellen. Wegen des am 17. Mai 1974 eröffneten Konkursverfahrens sei es nicht mehr zu der zugesagten Kreditgewährung gekommen. Entgegen der Auffassung des FG sei es weder möglich noch zumutbar gewesen, die ihm bei den Abschlagszahlungen für April 1974 nicht vorliegenden Besteuerungsmerkmale von 60 Arbeitnehmern bei diesen zu ermitteln und dementsprechend Abzüge einzubehalten und abzuführen.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Das FG ist hinsichtlich der Haftung des Klägers von zutreffenden rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen. Die GmbH, deren Geschäftsführer der Kläger war, war nach § 41 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1971 und 1974 verpflichtet, bei jeder Lohnzahlung Lohnsteuer für ihre Arbeitnehmer einzubehalten und an das FA abzuführen. Diese Verpflichtung erstreckte sich auch auf die Ergänzungsabgabe (§ 6 des Gesetzes über eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer i. d. F. des Zweiten Steueränderungsgesetzes 1967 vom 21. Dezember 1967, BGBl I, 1254, BStBl I 1967, 484) und den Stabilitätszuschlag (§ 5 des Stabilitätszuschlagsgesetzes i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 1973 vom 26. Juni 1973, BGBl I, 676, BStBl I 1973, 545). Als Geschäftsführer der GmbH hatte der Kläger gemäß § 103 AO i.V.m. § 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) alle Pflichten zu erfüllen, die der GmbH als Arbeitgeberin bei der Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer und der Nebenabgaben oblagen. Insbesondere hatte er dafür zu sorgen, daß die Steuern aus den Mitteln, die er verwaltete, entrichtet wurden. Soweit durch schuldhafte Verletzung dieser Pflicht Steueransprüche verkürzt worden sind, haftet der Kläger nach § 109 Abs. 1 AO, der gemäß Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) für vor dem 1. Januar 1977 begründete Haftungstatbestände noch Anwendung findet, persönlich neben dem Steuerpflichtigen. Eine Steuerverkürzung im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn eine Steuerschuld nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig an die Finanzkasse abgeführt worden ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 20. Oktober 1976 I R 116/74, BFHE 121, 5, BStBl II 1977, 257, m.w.N.).

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Frage des Verschuldens bei der Abführung der einbehaltenen Lohnsteuer streng zu beurteilen. Für die Annahme des Verschuldens i. S. des § 109 AO reicht bereits ein leicht fahrlässiges Verhalten aus (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20. April 1982 VII R 96/79, BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521, m.w.N.). Der seit dem 1. Januar 1977 geltende engere Verschuldensmaßstab - Haftung nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit gemäß § 69 der Abgabenordnung (AO 1977) - kann auf die nach der alten Rechtslage zu beurteilenden Haftungsfälle keine Anwendung finden und muß auch, wie der Senat wiederholt entschieden hat, bei der Auslegung des § 109 Abs. 1 AO ohne Berücksichtigung bleiben. Zu Unrecht beruft sich der Kläger auf das BFH-Urteil vom 11. Mai 1962 VI 195/60 U (BFHE 75, 206, BStBl III 1962, 342), wonach auch nach der früheren Rechtslage der Geschäftsführer nur haften solle, wenn ihn ein wesentliches Verschulden treffe. Die vom Kläger zitierten Urteilsausführungen zu den erheblichen Verschuldensanforderungen beziehen sich, wie der VI. Senat des BFH betont, allein auf den Fall der Haftung wegen nicht richtiger Einbehaltung der Lohnsteuer. Der Kläger wird aber wegen Nichtabführung der einbehaltenen Lohnsteuer bzw. - für April 1974 - wegen völligen Unterlassens der Lohnsteuereinbehaltung und -abführung in Anspruch genommen. Diese Haftungstatbestände, bei denen rechtliche Zweifel des Geschäftsführers nicht denkbar sind, sind bereits bei leicht fahrlässiger Pflichtverletzung erfüllt.

2. Die Feststellungen des FG reichen aber nicht aus, um für den gesamten noch streitigen Haftungszeitraum ein derartiges Verschulden des Klägers zu bejahen. Nach den Feststellungen der Vorinstanz konnte der Kläger auf der Grundlage des testierten Wirtschaftsprüfungsberichts für das Jahr 1972 bei Gegenüberstellung der Umsatzsteuerbeträge des Jahres 1973 und der gezahlten und der offenen Lohnsteuerschulden 1973 davon ausgehen, daß der GmbH am Jahresende 1973 noch ein Steuerguthaben aus vorangemeldeten Vorsteuerüberschüssen in Höhe von mindestens 160 296,92 DM, bei - der nicht positiv festgestellten - Entrichtung der Lohnsteuerabzugsbeträge für Mai 1973 sogar in Höhe von 205 864,36 DM zustand. Diese tatsächlichen Feststellungen des FG sind für den Senat bindend, da sie nicht mit Verfahrensrügen angegriffen und nicht durch Denkfehler oder Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflußt sind (§ 118 Abs. 2 FGO). Das FG hat aus seinen Feststellungen den Schluß gezogen, daß der Kläger mit der Nichtabführung der Lohnabzugsbeträge für die Monate Dezember 1973 und Januar 1974 nicht schuldhaft gegen die ihm obliegenden steuerlichen Pflichten verstoßen habe, weil er auf das Bestehen des Steuerguthabens habe vertrauen dürfen und das FA keine Einwände gegen die beantragte Verrechnung erhoben habe. Die Vorinstanz hat aber, obwohl sie nach Einbeziehung (Verrechnung) der Zahllasten für den Monat Januar 1974 noch ein rechnerisches Steuerguthaben der GmbH in Höhe von 114 595,31 DM bzw. 160 162,75 DM (bei der Zahlung der Lohnabzugsbeträge Mai 1973) ermittelt hat, die Möglichkeit einer weiteren Verrechnung mit nachfolgenden Lohnsteuerschulden der GmbH verneint und deshalb für den Zeitraum ab Februar 1974 eine die Haftung begründende schuldhafte Pflichtverletzung des Klägers angenommen. Das FG begründet die Ablehnung einer Verrechnung der Lohnsteuerrückstände ab diesem Zeitpunkt damit, daß die später festgestellte Umsatzsteuerzahllast für Februar 1973 (1 133 258 DM) das noch bestehende Guthaben von 114 595,31 DM bzw. 160 162,75 DM vollständig aufgezehrt habe. Der Senat vermag dem nicht zu folgen.

Das FG geht - ohne dies ausdrücklich auszusprechen - davon aus, daß eine Aufrechnung (Verrechnung) von Guthaben und Schulden derselben Steuerart (hier Umsatzsteuer) gegenüber der Verrechnung unterschiedlicher Steuern vorrangig sei. Für diese Auffassung fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Zwar wird nach § 18 Abs. 2 Satz 4 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1973 ein sich in der Umsatzsteuervoranmeldung ergebender Überschuß zugunsten des Unternehmers in den folgenden Voranmeldungszeitraum vorgetragen. Der Unternehmer ist aber nicht gehindert, zum Zwecke der Tilgung anderer Steuerschulden mit dem Vorsteuerüberschuß aufzurechnen bzw. die Verrechnung durch das FA zu beantragen, was sich schon daraus ergibt, daß nach der hier maßgeblichen Rechtslage Überschüsse von mehr als 1 000 DM auf Antrag sofort zurückzuzahlen waren (§ 18 Abs. 2 Satz 5 UStG 1973). Gegen einen Vorrang der Verrechnung innerhalb derselben Steuerart spricht auch, daß der Steuerpflichtige bei freiwilliger Zahlung, die zur Tilgung sämtlicher Schulden nicht ausreicht, die Reihenfolge der Tilgung bestimmen kann (§ 123 Abs. 1 AO, § 225 Abs. 1 AO 1977). Auch bei der Aufrechnung kann der Steuerpflichtige, solange nicht das FA seinerseits die Aufrechnung erklärt und eine bestimmte Schuld zum Erlöschen gebracht hat, bestimmen, welche Schuld getilgt werden soll (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 123 Tz. 2).

Daraus folgt, daß der Kläger rechtlich nicht gehindert war, die Verrechnung der ab Februar 1974 für die GmbH abzuführenden Lohnsteuerbeträge mit dem noch bestehenden Umsatzsteuerguthaben dieser Firma zu beantragen, obwohl sich später für den Monat Februar 1974 eine Umsatzsteuerzahllast ergab, die den Betrag dieses Guthabens überstieg. Das gilt jedenfalls so lange, wie das FA von der ihm zustehenden Aufrechnungsbefugnis keinen Gebrauch gemacht und das Umsatzsteuerguthaben noch nicht zum Erlöschen gebracht hatte.

Nach den Feststellungen des FG ist davon auszugehen, daß das FA innerhalb des hier streitigen Haftungszeitraums keine Aufrechnung oder Verrechnung der Umsatzsteuerzahllast für Februar 1974 mit dem bis zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Steuerguthaben der GmbH vorgenommen hat. Denn dem FA war die Höhe dieser Zahllast nicht bekannt. Das folgt daraus, daß der GmbH, wie das FG festgestellt hat, für die Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldung Februar 1974 Fristverlängerung bis zum 10. Mai 1974 eingeräumt worden war und dem Kläger selbst die Zahllast für diesen Monat erst im Mai 1974 bekanntgeworden ist. Der Kläger konnte somit - ebenso wie bei der Abgabe der vorangegangenen Lohnsteueranmeldungen - auch bei der Abgabe der Lohnsteueranmeldungen für die Zeiträume ab Februar 1974 darauf vertrauen, daß einem von ihm gestellten Verrechnungsantrag entsprochen und die Lohnsteuerschuld, soweit Deckung vorhanden war, aus dem noch bestehenden Umsatzsteuerguthaben getilgt würde. In der Nichtabführung der Lohnsteuer läge unter diesen Umständen keine schuldhafte Pflichtverletzung i. S. des § 109 AO. Auf die vorzeitige Kenntnis oder Erkennbarkeit der sich für den Monat Februar 1974 ergebenden Umsatzsteuerzahllast durch den Kläger kommt es entgegen der Auffassung des FG nicht an, weil für eine Verrechnung innerhalb derselben Steuerart kein zwingender Vorrang besteht.

Der Senat kann aber nur entscheiden, daß die Haftung des Klägers, den vorstehenden Ausführungen entsprechend, für die für den Monat Februar 1974 zu entrichtenden Lohnabzugsbeträge entfällt. Denn das Urteil der Vorinstanz enthält positive Feststellungen über eine beantragte Verrechnung der Lohnsteuerschulden mit dem Umsatzsteuerguthaben neben den bereits vom FG aufgehobenen Haftungszeiträumen nur für den Monat Februar 1974. Nach dem angefochtenen Haftungsbescheid betragen die für diesen Monat abzuführenden Steuerabzugsbeträge insgesamt 35 401,84 DM. Der Kläger konnte, da Einwendungen gegen die beantragte Verrechnung nicht erhoben worden sind, darauf vertrauen, daß die Lohnsteuer für Februar 1974 aus dem bei Abgabe dieser Steueranmeldung noch bestehenden Umsatzsteuerguthaben von 114 595,31 DM bzw. 160 162,75 DM getilgt würden.

Da nach dem Urteil der Vorinstanz der gesamte Haftungsbetrag für den Zeitraum Februar bis April 1974 120 507,55 DM beträgt, kommt auch hinsichtlich der Lohnabzugsbeträge für die Monate März und April 1974 eine Verrechnung mit diesem vom FA nicht zum Erlöschen gebrachten Umsatzsteuerguthaben in Betracht. Hierfür hätte das FG hinsichtlich eines auf den Monat April 1974 entfallenden Spitzenbetrages noch abschließende Feststellungen darüber zu treffen, ob die Lohnsteuer für Mai 1973 bezahlt worden ist und folglich das noch bestehende Steuerguthaben 114 595,31 DM oder 160 162,75 DM ausmachte. Für den Fall der Nichterweislichkeit dieser Tatsache wäre nach den Beweislastgrundsätzen von der Zahlung und damit von dem höheren Guthabensbetrag auszugehen, was hinsichtlich des gesamten hier noch streitigen Haftungsbetrags zu einer Freistellung des Klägers führen könnte.

Ein Verschulden des Klägers bei der Nichtabführung der auf die Monate März und April 1974 entfallenden Steuerabzugsbeträge kann aber nur dann ausgeschlossen werden, wenn der Kläger für diese Zeiträume Lohnsteueranmeldungen abgegeben hat, was hinsichtlich des Monats April 1974 zweifelhaft erscheint, und wenn er auch für diese Monate eine Verrechnung der angemeldeten Steuerschulden mit dem Umsatzsteuerguthaben beantragt hatte. Ohne einen entsprechenden Antrag konnte er nicht davon ausgehen, daß das FA die Verrechnung vornehmen werde und die Lohnsteuerschulden getilgt würden. Da im Urteil der Vorinstanz entsprechende Feststellungen hierzu fehlen, wird das FG diese nachzuholen haben. Sollten ausdrückliche, mit der Abgabe der Lohnsteueranmeldungen verbundene Verrechnungsanträge nicht gestellt worden sein, so wird das FG weiter zu prüfen haben, ob der Kläger aufgrund des Bestehens einer generellen Verrechnungsabrede davon ausgehen konnte, daß das FA die Verrechnung vornehmen werde.

3. Für den Fall, daß der Kläger nach den vorstehenden Ausführungen nicht davon ausgehen konnte, daß die auf den Monat April 1974 entfallenden Lohnsteuerschulden durch Verrechnung getilgt würden, folgt der Senat der Auffassung des FG, daß auch die mangelnde Einbehaltung der Lohnabzugsbeträge eine schuldhafte Pflichtverletzung darstellt, die zu der Steuerverkürzung geführt hat. Der Kläger kann sich nicht damit entlasten, daß er wegen der bei der Schwesterfirma geführten Lohnbuchhaltung und des dort eingetretenen Konkurses die Besteuerungsmerkmale der Arbeitnehmer nicht gekannt habe und ihm deshalb die sachgerechte Einbehaltung der Abzüge nicht möglich gewesen sei. Nach den Feststellungen des FG war dem Kläger bereits drei bis vier Tage vor dem am 30. März 1974 gestellten Konkursantrag mitgeteilt worden, daß ein Konkurs der Schwesterfirma unvermeidlich sein würde. Er hätte somit rechtzeitig dafür sorgen können, daß ihm die Lohnunterlagen, die die Arbeitnehmer der von ihm vertretenen GmbH betrafen, übermittelt würden, um eine ordnungsgemäße Lohnabrechnung für den Monat April 1974 zu gewährleisten. Für den Fall, daß ihm auch dies unverschuldet nicht möglich gewesen sein sollte, hätte er von den geleisteten Abschlagszahlungen Abzüge in etwa dem Verhältnis zur Lohnsumme einbehalten müssen, wie dies den Lohnabrechnungen der Vormonate entsprach, um das FA und die Arbeitnehmer anteilig befriedigen zu können (vgl. BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521, 523). Denn der Kläger mußte damit rechnen, daß ihm wegen des Konkurses bei der Schwesterfirma die Erstellung einer ordnungsgemäßen Lohnabrechnung bis zum Fälligkeitstag (10. Mai 1974) nicht mehr möglich sein werde. Aus diesem Grunde konnte er auch nicht darauf vertrauen, daß ihm die auf die Abschlagszahlungen entfallenden Lohnabzugsbeträge im Fälligkeitszeitpunkt von der X-Bank, mit der er in Kreditverhandlungen stand, zur Verfügung gestellt wurden. Denn diese Bank hatte nach dem eigenen Vorbringen des Klägers ihre Kreditzusage von der Vorlage der Lohnabrechnung abhängig gemacht, mit deren rechtzeitiger Erstellung der Kläger aber nicht mehr rechnen konnte.

4. Der angefochtene Haftungsbescheid vom 23. Mai 1975, der der Vorentscheidung zugrunde liegt, enthält ausgewiesen in drei offensichtlich geschätzten Beträgen die Lohnsteuer, evangelische Kirchensteuer und römisch-katholische Kirchensteuer für den Zeitraum ,,1. 4 bis 17. 5. 1974". Für die auf den Monat Mai 1974 entfallenden Lohnabzugsbeträge haftet der Kläger aber deshalb nicht, weil bereits am 17. Mai 1974 das Konkursverfahren über das Vermögen der von ihm vertretenen GmbH eröffnet worden ist und er folglich nicht mehr zur Abführung dieser Steuern verpflichtet war. Das FG wird im Falle der Haftung des Klägers die auf den Monat April 1974 entfallenden Steuerabzugsbeträge gesondert ermitteln müssen.

5. Der Senat verweist den Rechtsstreit insgesamt - auch hinsichtlich des Haftungszeitraums Februar 1974, für den er die Haftung des Klägers abschließend verneint - zum Zwecke weiterer Ermittlungen und erneuter Feststellungen zur Haftungssumme an das FG zurück. Ihm ist aus dem Urteil der Vorinstanz nicht ersichtlich, wie das FG für den Zeitraum Februar 1974 bis April (Mai) 1974 zu einer Haftungssumme von 120 507,55 DM gelangt ist, während die Summe der im angefochtenen Haftungsbescheid für diesen Zeitraum ausgewiesenen Beträge 120 346,45 DM beträgt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414670

BFH/NV 1987, 74

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