Leitsatz (amtlich)

Der vom FA im Zweifel zu erbringende Beweis des Zugangs eines als einfacher Brief abgesandten Steuerbescheids ist nach den Regeln für den Beweis des ersten Anscheins als erbracht anzusehen, wenn der Adressat erst nach Jahren den Zugang bestreitet, obwohl er schon in früheren Jahren wiederholt Anlaß gehabt hätte, den Nichtzugang geltend zu machen.

 

Normenkette

VwZG § 17

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) erließ für den Veranlagungszeitraum 1959 einen Einkommensteuer-(mit Kirchensteuer-) und einen Gewerbesteuer-Bescheid. Die Bescheide wurden lt. Absendevermerk auf den Berechnungsbögen am 15. Mai 1961 zur Post gegeben. Die Einkommensteuer und die Gewerbesteuer wurden zum 19. Juli 1961 fällig gestellt. Mit Datum vom 23. Mai 1961 erhielt der Kläger einen Kontoauszug, in welchem die rückständigen Steuerbeträge unter Bezugnahme auf die "Veranlagung" angefordert wurden. - Im April 1965 beantragte der Kläger beim Stadtsynodalverband Erlaß von Kirchensteuer 1959. Der Antrag wurde am 17. August 1965 unter Hinweis auf den Einkommensteuerbescheid 1959 abgewiesen. - Am 21. September 1966 pfändete das FA wegen der genannten Steuerbeträge eine dem Kläger zustehende Eigentümergrundschuld.

Erstmals mit Schriftsatz vom 2. Mai 1968 ließ der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten erklären, daß der Einkommensteuerbescheid 1959 ihm nicht zugegangen sei (unter dem 18. Oktober 1968 bestritt er auch den Zugang des Gewerbesteuerbescheides 1959). Er beantragte, nunmehr die endgültige Veranlagung durchzuführen.

Das FA lehnte den Antrag mit Verfügungen vom 24. Juni 1968 und vom 7. Februar 1969 ab. Den gegen die letzte Verfügung gerichteten Einspruch verwarf das FA als unzulässig.

Hiergegen erhob der Kläger Verpflichtungsklage mit dem Antrag, einen Einkommensteuerbescheid 1959 entsprechend der Einkommensteuererklärung zu erlassen. Er machte außerdem hilfsweise Verjährung der Steuerforderung geltend.

Das FG erachtete die Verpflichtungsklage zwar für zulässig, wies sie jedoch aus sachlichen Gründen mit der Maßgabe ab, daß der Einspruch unbegründet sei. Das FA habe die geforderte Einkommensteuerveranlagung 1959 mit Recht abgelehnt, weil ein Einkommensteuerbescheid 1959 bereits am 15. Mai 1961 erlassen und bestandskräftig geworden sei. Der Absendevermerk in den Steuerakten begründe den Beweis des ersten Anscheins, daß der Bescheid abgesandt und dem Kläger zugegangen sei. Der Bescheid sei nicht an das FA zurückgelangt. Diesen Anscheinsbeweis könne der Kläger nicht durch bloßes Bestreiten zunichte machen. Er hätte Tatsachen vorbringen müssen, die den Schluß zuließen, daß ein anderer Geschehensablauf als der geschilderte typische Ablauf ernstlich in Betracht zu ziehen sei. Für den typischen Ablauf spreche das Vorbringen des Klägers, er habe damals alle Briefsendungen des FA ungeöffnet seinem Prozeßbevollmächtigten zur Bearbeitung zugeleitet. Auch das Kirchensteuererlaßverfahren zeige, daß der Kläger Kenntnis von der Einkommensteuer- (und Kirchensteuer-) Festsetzung gehabt habe. - Der Einwand der Verjährung gehe fehl. Die fünfjährige Verjährungsfrist sei durch den Einkommensteuerbescheid 1959 vom 15. Mai 1961 und durch die Pfändungsverfügung vom 26. Juni 1966 unterbrochen worden. Als Unterbrechungshandlungen seien im übrigen auch die Übersendungen von Kontoauszügen anzusehen.

In seiner Revision beantragt der Kläger, die Vorentscheidung und die angefochtenen Bescheide aufzuheben und nach dem Klageantrage zu erkennen.

Das FG habe ihm die Beweislast dafür, daß er den Bescheid nicht erhalten habe, zu Unrecht aufgebürdet. Denn im Zweifel habe das FA den Zugang nachzuweisen (vgl. Urteil des BFH vom 23. September 1966 III 226/63, BFHE 87, 203, BStBl III 1967, 99). Der Massenbetrieb der Post mache Fehler und Irrtümer möglich. Im Streitfall komme in Betracht, daß die Post den Bescheid seinem im selben Hause wohnenden Vater (gleichen Vornamens) ausgehändigt habe. Aus einer angeblichen Kenntnis der Steuerschuld könne kein Schluß auf den Zugang des Bescheids gezogen werden. Die tägliche Erfahrung lehre im übrigen, daß - wie sich aus dem zu den Senatsakten gereichten Vergleichsmaterial ergebe - den Behörden auf dem Gebiete des Zustellungswesens viele Fehler unterliefen.

Das FA beantragt die Abweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Ergebnis unbegründet.

1. Nach § 17 Abs. 2 VwZG gilt bei Zusendung eines Steuerbescheids durch einfachen Brief (§ 17 Abs. 1 VwZG) die Bekanntgabe als mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post bewirkt, es sei denn, daß das Schriftstück nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Bestreitet nämlich der Adressat den Zugang überhaupt, so kann ihm eine Substantiierung dieses Bestreitens nicht zugemutet werden. Der Adressat wäre nicht in der Lage darzutun oder gar zu beweisen, daß ein Schriftstück infolge eines atypischen Geschehensablaufs nicht zugegangen sei (vgl. BFH-Urteil III 226/63). Andererseits kann das FA den ihm obliegenden Beweis nach den allgemeinen Grundsätzen über den Beweis des ersten Anscheins führen, indem es die Tatsachen beweist, die für den typischen Geschehensablauf sprechen (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Anm. 10 zu § 96 FGO; Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 10. Aufl., S. 566 ff.). Dies sind die Tatsachen, aus denen auf Grund der Lebenserfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit gefolgert werden kann, daß der Adressat den Bescheid erhalten hat. Es ist dann Sache des Adressaten, diese Tatsachen zu entkräften, indem er die Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs dartut, in welchem Falle alsdann das FA wiederum den vollen Beweis für den Zugang des Schriftstücks zu erbringen hat. Es handelt sich somit nicht, wie der Kläger in seiner Revision, vor allem in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat, eingewendet hat, um eine Umkehrung der Beweislast (vgl. Rosenberg-Schwab, a. a. O., S. 568).

Zwar hat das FG rechtsirrig angenommen, daß das FA den Zugang dann nicht mehr zu beweisen brauche, wenn der festgestellte Sachverhalt für den typischen Geschehensablauf, d. h. für den Zugang spreche. Aber diese Erwägung hat das Ergebnis nicht beeinflußt. Denn das FG hat zutreffend darauf abgestellt, daß das FA die Tatsachen zu beweisen hat, die für den typischen Ablauf sprechen. Der Fehler in der Auffassung des FG lag darin, daß das FG damit das FA als des Beweises für den Zugang selbst enthoben ansah, während das FA in Wahrheit nur den sog. Anscheinsbeweis erbracht hat. Der Fehler wirkte sich aber nicht aus, weil es dem Kläger nicht gelungen ist, dem FG die Überzeugung zu vermitteln, daß ein atypischer Geschehensablauf ernstlich in Betracht komme (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).

2. Weder die vom FG gezogene Folgerung, daß die festgestellten Tatsachen auf den Zugang des Bescheids schließen ließen, noch seine Würdigung der Einwände des Klägers sind rechtlich zu beanstanden.

a) Nach der Erfahrung wendet sich ein Steuerpflichtiger, der wegen einer Steuerforderung in Anspruch genommen wird, obgleich ihm ein Steuerbescheid nicht zugegangen ist, oder - bei Zweifelhaftigkeit des Zugangs - wenn er sonst, aus welchen Gründen immer, von dem Bescheid keine Kenntnis erlangt hat, gegen seine Heranziehung. Wird der Steuerpflichtige im Laufe mehrerer Jahre wiederholt in Anspruch genommen oder ergibt sich sonst gewichtiger Anlaß, den Nichtzugang des Steuerbescheides geltend zu machen und unterläßt er es, diesen Einwand zu erheben, so ist mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß dem Steuerpflichtigen der Bescheid zugegangen war. Das gilt zumal dann, wenn - wie der Kläger in der Revision betont hat - die Steuerforderung die wirtschaftliche Existenz des Adressaten gefährdet.

Anlaß, den Nichtzugang des Bescheides einzuwenden, hatten der Kläger oder sein jeweiliger steuerlicher Berater mehrere Male, nämlich als die ersten Zahlungsaufforderungen eingingen (1961), ferner im Zusammenhang mit dem Kirchensteuer-Erlaßverfahren (1965) und alsbald nach Einleitung der Beitreibungsmaßnahmen (1966). Der Umstand, daß der Kläger erst sieben Jahre nach der Absendung des Bescheids (1968) den Zugang bestritten hat, spricht für den typischen Geschehensablauf. Dabei kommt - entgegen der Ansicht des FG - dem Absendevermerk auf dem Berechnungsbogen des FA Bedeutung nur insofern zu, als er die - im Streitfall nicht entkräftete - Vermutung begründet, daß der an den Kläger adressierte Bescheid abgesandt worden ist. Aus dem Verhalten des Klägers in der Folgezeit konnte das FG darauf schließen, daß der Bescheid dem Kläger zugegangen war (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).

b) Das FG konnte auf Grund freier Beweiswürdigung auch zu dem Ergebnis gelangen, daß der vom FA geführte Anscheinsbeweis durch das Vorbringen des Klägers nicht erschüttert sei. Zu Unrecht wendet der Kläger ein, daß die ihm übersandten Kontoauszüge der Finanzkasse die Zusammensetzung der Steuerbeträge nicht hätten erkennen lassen. Denn das FG hat festgestellt, daß die Kontoauszüge die Beträge und die Veranlagungszeiträume enthalten hätten. Hiergegen hat der Kläger keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben (§ 118 Abs. 2 FGO). Das Kirchensteuer-Erlaßverfahren erachtet der Kläger im vorliegenden Zusammenhang für unerheblich, weil der Erlaßantrag sich auf Steuervorauszahlungen und nicht auf die Kirchensteuer-Jahresschuld 1959 bezogen habe. Sieht man davon ab, daß Einkommensteuer- und Kirchensteuerbescheid bei den Veranlagungen des Klägers jeweils in einem Schriftstück verbunden waren und sich schon aus diesem Grunde die Frage stellen könnte, ob nicht der Kirchensteuer-Erlaßantrag die Kenntnis und damit den Zugang des Einkommensteuerbescheids voraussetzt, so bestand jedenfalls deshalb für den Kläger Anlaß, den Nichtzugang des Einkommensteuerbescheides geltend zu machen, weil sich die Kirchensteuerbehörde bei ihrer Ablehnung des Erlaßantrages auf die abgeschlossene Einkommensteuerveranlagung 1959 ausdrücklich bezogen hatte. Auch der Einwand des Klägers, daß die im Jahre 1966 ausgebrachten Pfändungsmaßnahmen dazu geführt hätten, daß der Nichtzugang des Bescheids eingewandt worden sei, schlägt nicht durch. Denn diese Behauptung wurde erstmals im Jahre 1968 erhoben. Nicht zu beanstanden ist schließlich, daß das FG der Möglichkeit einer Verwechslung mit dem im selben Hause wohnenden Vater des Klägers als Adressaten keine Bedeutung beigemessen hat. Denn diese Möglichkeit vermag nicht die Tatsache zu entkräften, daß der Kläger selbst wegen der Steuerforderung wiederholt in Anspruch genommen worden ist und deshalb für ihn gewichtige Anlässe bestanden, den Nichtzugang des Bescheids - z. B. unter Hinweis auf jene Verwechslungsmöglichkeit - geltend zu machen.

Nach alledem mußte das FG zu der Auffassung gelangen, daß das FA den ihm obliegenden Beweis des Zugangs des Steuerbescheids erbracht hat und daß deshalb das FA gehindert ist, einen Einkommensteuerbescheid für den Veranlagungszeitraum 1959 nach dem Antrage des Klägers zu erlassen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70710

BStBl II 1974, 70

BFHE 1974, 502

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