Leitsatz (amtlich)

Über einen Einspruch ist auch dann noch zu entscheiden, wenn keine Klage nach § 46 Abs. 1 FGO erhoben und die Jahresfrist nach § 46 Abs. 2 FGO abgelaufen ist. Hierzu kann die Einspruchsbehörde aufgrund einer Verpflichtungsklage verpflichtet werden.

 

Normenkette

FGO § 40 Abs. 1, §§ 44, 46; AO § 230 Abs. 2, § 248; VwGO §§ 75-76; Schwellenpreis-ÄndVO vom 2. November 1971

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) legte am 4. Oktober 1962 gegen die in Einfuhrlizenzen vorausfestgesetzten Abschöpfungssätze Einspruch mit dem Ziel ein, die Sätze jeweils um den Betrag der bei der Einfuhr zu entrichtenden Ausgleichsteuer herabzusetzen. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel - EVSt-Getr -) vereinbarte mit der Klägerin, über die Einsprüche bis zur Klärung von Musterprozessen nicht zu entscheiden. Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Mai 1971 Rs. 76/70 (EGHE 1971, 393) und der danach ergangenen Schwellenpreis-Änderungsverordnung vom 2. November 1971 (Bundesanzeiger Nr. 209 vom 9. November 1971) - ÄndVO (1971) - fragte die Klägerin am 7. August 1972 bei der EVSt-Getr an, wann mit der Änderung der mit den Einsprüchen angefochtenen Abschöpfungsbescheide zu rechnen sei. Die EVSt-Getr teilte am 21. August 1972 mit. daß die Abschöpfungsfestsetzungen unanfechtbar geworden seien, weil die Klägerin unterlassen habe, gemäß § 158 Abs. 2 FGO bis zum 31. Dezember 1966 Klage zu erheben. Bei unanfechtbar festgesetzten Abschöpfungen finde keine Berichtigung statt. Am 1. September 1972 bat die Klägerin die EVSt-Getr, ihre Auffassung zu überprüfen, weil sie nicht gehindert sei, noch über den Einspruch zu entscheiden. Sie (die Klägerin) habe von der Erhebung der Untätigkeitsklage abgesehen, weil sie mit einer Entscheidung der EVSt-Getr nach Abschluß der Musterprozesse habe rechnen dürfen. Daraufhin antwortete die EVSt-Getr am 5. Oktober 1970, sie sehe sich außerstande, das Schreiben der Klägerin vom 1. September 1972 als Einspruch anzusehen. Den Schreiben der EVSt-Getr vom 21. August und 5. Oktober 1972 war keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt.

Die gegen die Bescheide der EVSt-Getr vom 21. August und 5. Oktober 1972 erhobene Klage mit dem Antrag, die EVSt-Getr für verpflichtet zu erklären, die in den Einfuhrlizenzen genannten Abschöpfungssätze nach Maßgabe der Schwellenpreis-Änderungsverordnung (1971) zu ändern, hilfsweise, die Sache unter Aufhebung der Bescheide vom 21. August und 5. Oktober 1972 an die EVSt-Getr zum Erlaß einer Einspruchsentscheidung zurückzuverweisen, führte zur Aufhebung dieser Abschöpfungsfestsetzungen und des Bescheides vom 21. August 1972, soweit sich diese auf die betreffenden Lizenzen bezog, sowie zur Zurückverweisung der Sache an die EVSt-Getr zur anderweitigen Festsetzung der Abschöpfungssätze nach Maßgabe der Schwellenpreis-Änderungsverordnung (1971).

Das FG sah die Klage, die nach seiner Ansicht als Untätigkeitsklage unzulässig gewesen wäre, als eine zulässige Klage nach § 44 FGO an, wobei es das Schreiben der EVSt-Getr vom 21. August 1972 als Einspruchsentscheidung ansah. Es führte aus, zwischen den Beteiligten bestehe kein Streit darüber, daß die Klage begründet sei. § 1 Abs. 1 ÄndVO (1971) erfordere es nämlich, die noch nicht unanfechtbar gewordenen Abschöpfungsvorausfestsetzungen für die im Streitfall in Betracht stehenden Getreidearten für die Zeit vom 30. Juli bis zum 31. Dezember 1962 neu festzusetzen. Einer Aufhebung des Schreibens der EVSt-Getr vom 5. Oktober 1972 habe es nicht bedurft, da insoweit keine weitere Entscheidung über den Einspruch habe ergehen können, nachdem die EVSt-Getr am 21. August 1972 über den Einspruch entschieden habe. Es handle sich dabei um eine nicht aufhebungsbedürftige Mitteilung.

Mit der Revision macht die EVSt-Getr geltend, die Verwaltung sei nicht verpflichtet, auch nach Ablauf der Jahresfrist nichterledigte Einsprüche sachlich zu bescheiden. Seien in § 76 VwGO und § 46 Abs. 2 FGO Klageausschlußfristen enthalten, so sei mit deren Ablauf das Anfechtungsrecht des Betroffenen erloschen. Die Behörde könne von diesem nicht mehr gezwungen werden, beantragte Rechtsbehelfsentscheidungen zu erlassen. Nach dem Urteil des BVerwG vom 13. Dezember 1967 IV C 124.65 (BVerwGE 28, 305) seien die angefochtenen Verwaltungsakte mit Ablauf der Jahresfrist unanfechtbar geworden. Entgegen der Vorentscheidung habe das BVerwG in seinem Urteil vom 18. September 1970 IV C 86.69 (StRK, Finanzgerichtsordnung, § 46, Rechtsspruch 12) seine frühere Rechtsprechung fortgesetzt und nochmals bekräftigt, daß die Entscheidung der Rechtsbehelfsbehörde jedenfalls nicht erzwungen werden könne. Nach dem Urteil des BVerwG vom 18. September 1970 IV C 78.69 (Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, S. 310 Nr. 8 zu § 76 VwGO) habe aber die Behörde das Recht, auch nach Ablauf eines Jahres seit Einlegung des Rechtsbehelfs zur Sache zu entscheiden und damit den Klageweg nach § 44 FGO innerhalb der normalen Rechtsmittelfrist zu eröffnen. Das Schreiben vom 21. August 1972 könne aber nicht als Einspruchsentscheidung angesehen werden. Es sei nicht mehr als ein Informationsschreiben über die Rechtslage, die sich aus § 1 Abs. 2 ÄndVO (1971) ergebe. Aber auch wenn man darin einen Verwaltungsakt sehen wollte, so sei damit nicht der Finanzgerichtsweg für die ursprünglichen Abschöpfungsfestsetzungen wiedereröffnet worden. Nach der Rechtsprechung des BVerwG zu § 76 VwGO müsse hierzu die Rechtsbehelfsbehörde über die Einwendungen gegen den Ausgangsverwaltungsakt in der Sache entschieden haben. Aus dem Schreiben vom 21. August 1972 gehe aber gerade hervor, daß eine sachliche Entscheidung über die Einsprüche der Klägerin ausgeschlossen sei, weil die Abschöpfungsfestsetzungen in der Zwischenzeit unanfechtbar geworden seien, und daß eine Entscheidung über den Einspruch deshalb abgelehnt worden sei. Auch das Schreiben vom 5. Oktober 1972 enthalte keine aufhebungsfähige Mitteilung.

Die EVSt-Getr beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie führt aus, sie habe sich nach der vorgetragenen Gesamtsituation weder verpflichtet noch berechtigt gefühlt, Untätigkeitsklage zu erheben, weil sie mit dem Einwand der EVSt-Getr bezüglich der Vereinbarung einer späteren Einspruchsentscheidung rechnen und somit die Kostenlast hätte tragen müssen. Die EVSt-Getr sei nach § 248 AO (siehe auch Art. 19 Abs. 4 GG) verpflichtet gewesen, die Einsprüche auch nach Ablauf der Jahresfrist zu prüfen und zu erledigen. Zumindest ergebe sich diese Verpflichtung aus der allgemeinen Fürsorgepflicht der EVSt-Getr gegenüber der ihrer Betreuung speziell zugeordneten Wirtschaftsgruppe des Importhandels.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt entsprechend dem Hilfsantrag der Klägerin zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Verpflichtung der EVSt-Getr zum Erlaß einer Einspruchsentscheidung.

Zutreffend hat das FG die Klage nach § 46 Abs. 2 FGO nicht als Klage nach § 46 Abs. 1 FGO für zulässig gehalten, weil jedenfalls im Zeitpunkt der Klageerhebung besondere Verhältnisse im Sinne dieser Vorschrift nicht mehr vorlagen, also die Klagefrist verstrichen war. Der Senat macht sich insoweit die Ausführungen des FG zu eigen. Entgegen der Ansicht des FG ist aber die Klage nicht nach § 44 FGO zulässig gewesen. In dem Schreiben der EVSt-Getr vom 21. August 1972 kann nicht eine Einspruchsentscheidung gesehen werden. Die EVSt-Getr hat mit ihrem Schreiben vom 5. Oktober 1972 ausdrücklich klargestellt, daß ihr Schreiben vom 21. August 1972 lediglich informatorisch über die Rechts- und Sachlage unterrichten sollte. Aber auch schon aus Inhalt und Form des ersten Schreibens ergibt sich, daß die EVSt-Getr es ablehnte, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen, weil sich die Einsprüche nach ihrer Meinung infolge Ablaufs der Jahresfrist des § 46 Abs. 2 FGO erledigt hatten. Da sonach das durch den Einspruch der Klägerin eingeleitete Vorverfahren noch nicht abgeschlossen und die Klage nach § 44 Abs. 1 FGO daher nicht zulässig war, mußte die Vorentscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen werden, soweit sie mit ihrem Hauptantrag darauf gerichtet war, die EVSt-Getr für verpflichtet zu erklären, die in den angegebenen Einfuhrlizenzen vorausfestgesetzten Abschöpfungssätze nach Maßgabe der Schwellenpreis-Änderungsverordnung (1971) zu ändern.

Dagegen war dem mit der Klage gestellten Hilfsantrag der Klägerin, die Sache unter Aufhebung der Bescheide vom 21. August und 5. Oktober 1972 an die EVSt-Getr zum Erlaß einer Einspruchsentscheidung zurückzuverweisen, stattzugeben.

Die beiden angegriffenen Schreiben der EVSt-Getr stellten Verwaltungsakte dar, da sie nicht nur eine Mitteilung über die Rechtslage, sondern auch die für einen Verwaltungsakt charakteristische Regelung eines Einzelfalles enthielten. Denn die EVSt-Getr weigerte sich in den Schreiben, den bei ihr eingelegten Einspruch zu bescheiden.

Gegen diese Entscheidung einer Verwaltungsbehörde mußte sich die Klägerin nach Art. 19 Abs. 4 GG mit einem Rechtsbehelf zur Wehr setzen können. Die Möglichkeit hierzu war ihr nicht dadurch genommen, daß die Klage nach § 46 FGO wegen Ablaufs der Klagefrist ausgeschlossen war. § 46 Abs. 1 FGO gibt dem Steuerpflichtigen lediglich die Möglichkeit, bei schwebendem Verwaltungsvorverfahren, ohne daß dieses abgeschlossen ist, Klage zu erheben. Diese Klage ist entgegen der für sie gebräuchlichen irreführenden Bezeichnungen als "Untätigkeitsklage" nicht darauf gerichtet, eine Untätigkeit der Behörde zu beseitigen, also eine Einspruchsentscheidung zu erzwingen, sondern dient dazu, dem Steuerpflichtigen, der durch das Erfordernis eines seiner Klage vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens (§ 44 FGO) an einer unmittelbaren Klageerhebung gehindert ist, bei Säumnis der Behörde mit dem Erlaß einer beantragten Vorentscheidung dieses unmittelbare Klagerecht zu verschaffen, wobei die Klage nach § 46 FGO auf Erlaß einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache selbst gerichtet ist (vgl. z. B. das Urteil des BFH vom 25. Oktober 1973 VII R 15/71, BFHE 111, 1, BStBl II 1974, 116).

Das kann aber nicht bedeuten, daß dem Steuerpflichtigen, der Einspruch eingelegt, aber die Möglichkeit einer unmittelbaren Klageerhebung nicht ausgenutzt hat, das Recht genommen wird, die Behörde im Wege der Verpflichtungsklage auf Vornahme eines beantragten Verwaltungsakts, nämlich auf Erlaß einer Einspruchsentscheidung, zu verklagen. Er verlangt damit nicht dasselbe wie mit der (jetzt ausgeschlossenen) Klage des § 46 FGO, sondern lediglich das nach seiner Ansicht gesetzlich gebotene Tätigwerden der Verwaltung. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, daß das Rechtsschutzbedürfnis für eine solche Klage fehle, weil der Kläger die Möglichkeit, eine unmittelbare Entscheidung des Gerichts in der Sache selbst zu erhalten, gehabt habe, diese aber ungenutzt habe verstreichen lassen. Denn die Vorschaltung eines Verwaltungsvorverfahrens stellt nicht nur zum Nachteil des Steuerpflichtigen ein Prozeßhindernis auf, sie gibt ihm gleichzeitig auch das Recht auf eine erneute Nachprüfung durch dieselbe oder eine übergeordnete Behörde, wodurch ihm unter Umständen gerichtliche Kosten erspart bleiben, Der Steuerpflichtige ist deshalb nicht gezwungen, die Untätigkeitsklage zu erheben, sondern kann auf einer Entscheidung im Verwaltungsvorverfahren bestehen. (Ob er damit Erfolg haben kann, ist eine andere, noch zu erörternde Frage.)

Dieser Auffassung des Senats steht nicht seine eigene Entscheidung in dem angeführten Urteil VII R 15/71 entgegen. Dort ist lediglich gesagt, daß neben der - bereits auf eine Sachentscheidung gerichteten - "Untätigkeitsklage" kein Rechtsschutzbedürfnis für eine (nur) auf den Erlaß einer Einspruchsentscheidung gerichteten Verpflichtungsklage bestehe.

Die Klage auf Verpflichtung zum Erlaß einer Einspruchsentscheidung ist ohne Durchführung eines Verwaltungsvorverfahrens zulässig. Es wäre sinnwirdrig, vor Erhebung einer auf Durchführung eines Einspruchsverfahrens gerichteten Klage zunächst wieder die Durchführung eines von derselben Behörde zu behandelnden Einspruchsverfahrens zu verlangen. Die Beschwerde (an die übergeordnete Behörde) ist aber, wie sich aus § 230 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO ergibt, nicht zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Die EVSt-Getr mußte trotz Ablaufs der Frist für eine Klage nach § 46 Abs. 1 FGO noch über den Einspruch entscheiden. Das ergibt sich aus § 248 AO. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift entscheidet die Finanzbehörde durch Einspruchsentscheidung. Nach Abs. 2 hat sie die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen. Es bedarf einer Einspruchsentscheidung nur insoweit nicht, als die Behörde dem Einspruchsantrag durch Zurücknahme oder Änderung der angefochtenen Verfügung entsprechen will. Diese Vorschriften gelten auch für die EVSt-Getr, die nach § 10 Abs. 1 des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 (Getreide) des Rates der EWG vom 26. Juli 1962, Bundesgesetzblatt I 1962 S. 455 (BGBl I 1962, 455) anstelle des FA Einspruchsbehörde ist. Da sie die Änderung der Abschöpfungsfestsetzungen ausdrücklich abgelehnt hatte, mußte sie also über den Einspruch entscheiden. Diese Verpflichtung zur Entscheidung ist durch keine gesetzlichen Bestimmungen eingeschränkt, insbesondere auch nicht durch § 46 FGO, wie sich aus den obenstehenden Erwägungen ergibt.

Das BVerwG hat allerdings in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß mit Ablauf der in § 76 VwGO vorgeschriebenen Jahresfrist, die der des § 46 Abs. 2 FGO rechtsähnlich ist, der mit Widerspruch angegriffene Bescheid unanfechtbar werde, wenn bis dahin ein Widerspruchsbescheid nicht ergangen und Klage nicht erhoben worden sei (Entscheidungen IV C 124.65; vom 21. September 1973 IV C 35.72, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 310 § 76 VwGO Nr. 14; vom 31. Januar 1975 IV C 32.73, HFR 1975, 465). Begründet wird diese Auffassung damit, daß es mit Ablauf der Jahresfrist an einem mit Klage durchsetzbaren Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsaktes fehle. Der erkennbare Sinn und Zweck des § 76 VwGO berechtige die Widerspruchsbehörde, nach Ablauf der Frist des § 76 VwGO weiter untätig zu bleiben und stehe der Annahme entgegen, daß die Behörde trotz Ablaufs der Jahresfrist über den Widerspruch noch der Sache nach entscheiden müsse.

Der Senat, der dem für das Gebiet der Finanzgerichtsbarkeit nicht folgt, hält eine Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach §§ 2, 11 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl I, 661) nicht für erforderlich. Denn die vom BVerwG vertretene Auffassung ist nicht unmittelbar aus dem Gesetz abzuleiten, sondern im Wege der Auslegung entwickelt worden, während die hier vertretene Auffassung auf dem eindeutigen Wortlaut des § 248 AO beruht. Auch sind die einschlägigen Vorschriften der Finanzgerichtsordnung und der Verwaltungsgerichtsordnung in wesentlichen Punkten verschieden, nach § 80 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung, die nur in besonderen Fällen entfällt. Nach § 242 Abs. 1 AO wird dagegen die Vollziehung der angegriffenen Verfügung nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung einer Abgabe nicht aufgehalten. Dieser grundsätzliche Unterschied hat im Rechtsbehelfsverfahren zur Folge, daß die Behörde im Verfahren nach der Verwaltungsgerichtsordnung im Gegensatz zum Verfahren nach der Reichsabgabenordnung bestrebt sein muß, über den Rechtsbehelf frühzeitig zu entscheiden, um die angegriffene Verfügung vollziehen zu können. Ferner ist nach § 46 Abs. 1 FGO die Klage nicht zulässig, wenn dem Rechtsbehelfsführer von der Behörde ein zureichender Grund für die Untätigkeit mitgeteilt worden ist. Dagegen muß der Kläger nach § 75 VwGO das Prozeßrisiko auf sich nehmen, ohne den gegebenenfalls vorhandenen zureichenden Grund der Behörde zu kennen. Das wirkt sich auf den Staatsbürger besonders deshalb einschneidend aus, weil er regelmäßig keine Rechtsbehelfsbelehrung hinsichtlich der Klage nach § 75 VwGO (wie auch der nach § 46 Abs. 1 FGO) erhält und daher über die besonderen Klagefristen in § 76 VwGO und die Auswirkungen bei ihrer Versäumnis (Unanfechtbarkeit, keine Verpflichtung der Behörde, über den Widerspruch zu entscheiden) nicht informiert wird (s. Späth in StRK, Finanzgerichtsordnung, § 46, Rechtsspruch 12, Anm. zu BVerwG-Urteil IV C 86.69, Neue Juristische Wochenschrift 1971 S. 1195).

Zu welchen, dem Sinn und Zweck der §§ 248 AO und 46 FGO widersprechenden Rechtsfolgen die Auffassung des BVerwG führen würde, zeigt besonders der Streitfall. Denn die EVSt-Getr war es, die nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen des FG aufgrund von Besprechungen mit der Klägerin und anderen Einspruchsführern die Entscheidung über die Einsprüche zurückstellte, bis die Rechtslage anhand von Musterprozessen geklärt sei. Es lag daher in ihrer Sphäre, den Ausgang dieser Prozesse zu verfolgen, zumal sie in jedem Falle auch in den anderen Verfahren die Beklagte war, während die an den Musterverfahren nicht beteiligten Einspruchsführer allein auf das in Aussicht gestellte Tätigwerden der EVSt-Getr angewiesen waren. Könnte sich die EVSt-Getr in einem solchen Fall darauf berufen, daß die angefochtenen Bescheide unanfechtbar geworden seien, so würde dies nicht nur ihrem vorherigen Verhalten, sondern insbesondere ihrer Verpflichtung nach § 248 AO, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen, widersprechen.

Da somit die dieser Verpflichtung entgegenstehenden beiden Bescheide der EVSt-Getr rechtswidrig sind, waren sie aufzuheben und die EVSt-Getr war zu verpflichten, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71709

BStBl II 1976, 116

BFHE 1976, 210

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