Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Rückstellung für die öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Nachanalyse von "Alt-Arzneimitteln"

 

Leitsatz (NV)

1. Eine Rückstellung muß Vergangenes abgelten; sie darf nicht gebildet werden, wenn ihre Erfüllung lediglich künftige Gewinnchancen ermöglicht.

2. Die öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Nachanalyse von sog. Alt-Arzneimitteln nach dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. 8. 1976 hängt wirtschaftlich mit dem Vertrieb der Arzneimittel nach dem 31. 12. 1992 zusammen.

3. Die privat-rechtliche Verpflichtung zur Zahlung der Kosten für bereits in Auftrag gegebene Gutachten unterliegt dem Verbot der Bilanzierung schwebender Geschäfte.

 

Normenkette

EStG § 5 Abs. 1 S. 1; HGB § 249 Abs. 1 S. 1; Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts Art. 3 § 7 Abs. 3, Art. 2 Nr. 1 lit. a bb des Vierten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes

 

Verfahrensgang

Hessisches FG

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) -- eine GmbH & Co. KG -- stellt Fertigarzneimittel her und vertreibt diese im In- und Ausland. Dazu gehörten u. a. auch die Arzneimittel P, S 1 und S 2. Sie wurden auch schon vor dem 1. Januar 1978 hergestellt und vertrieben (Altpräparate).

Nach dem Gesetz über den Verkehr von Arzneimitteln -- AMG -- (BGBl I 1976, 2445) dürfen solche Altpräparate seit dem 1. Januar 1978 nur noch in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch das Bundesgesundheitsamt (BGA) zugelassen sind (§21 Abs. 1 AMG). Sie gelten nach der Übergangsregelung des Art. 3 §7 Abs. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. August 1976 -- AMRNOG -- (BGBl I 1976, 2445) nach Anzeige beim BGA ohne Einschränkung als zugelassen. Die Zulassung erlosch jedoch am 31. Dezember 1989, wenn bis zum 30. April 1990 kein Antrag auf Verlängerung der Zulassung beim BGA gestellt wurde (Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 22. Dezember 1989, BGBl I 1989, 2462). Dem Verlängerungsantrag waren nach Art. 3 §7 Abs. 4 AMRNOG die Unterlagen nach §22 Abs. 1 AMG (u. a. Sachverständigengutachen über die analytische Prüfung, die pharmakologisch-toxikologische Prüfung und die klinische Prüfung des Arzneimittels) beizufügen. Die Altpräparate durften jedoch nach Art. 2 Nr. 1 des Vierten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 11. April 1990 (BGBl I 1990, 717) noch bis zum 31. Dezember 1992 in den Verkehr gebracht werden.

Die Klägerin hat die Nachzulassung der Arzneimittel P, S 1 und S 2 fristgerecht beantragt und für diese Präparate in den Streitjahren Aufträge zur Durchführung klinischer Versuche sowie zur Erstellung der erforderlichen Expertisen erteilt.

Die Klägerin schätzte die für diese Aufträge anfallenden Kosten und bildete auf dieser Grundlage Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten in Höhe von 150 000 DM (1989), 1 Mio. DM (1990) und 1 800 000 DM (1991).

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) berücksichtigte diese Rückstellungen bei der gesonderten und einheitlichen Feststellung der Gewinne der Klägerin für die Streitjahre nicht. Die Rückstellungen seien erstmals im Jahresabschluß des Wirtschaftsjahres zu bilden, in dem sie wirtschaftlich verursacht würden. Das sei erst nach dem 31. Dezember 1992 der Fall, weil die Nachzulassung für den Weiterbetrieb der Präparate erst ab diesem Zeitpunkt von Bedeutung werde.

Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.

Mit der -- vom Finanzgericht (FG) zugelassenen -- Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts (§5 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes -- EStG --, §249 Abs. 1 Satz 1 des Handelsgesetz buches -- HGB --).

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den geänderten Feststellungsbescheid für die Jahre 1989 bis 1991 vom 20. April 1994 i. d. F. der Einspruchsentscheidung vom 24. Mai 1994 dahingehend zu ändern, daß -- jeweils unter Berücksichtigung der sich ergebenden gewerbesteuerrechtlichen Auswirkungen -- die gewerblichen Einkünfte um 150 000 DM (1989), 1 Mio. DM (1990) und 1 800 000 DM (1991) vermindert werden.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Die Klägerin durfte in den Streitjahren keine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten aus den erteilten Untersuchungsaufträgen bilden (§5 Abs. 1 Satz 1 EStG, §249 Abs. 1 Satz 1 HGB).

1. Nach §249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind in der Handelsbilanz für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden. Da diese Verpflichtung zu den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung gehört, gilt sie auch für die Steuerbilanz (§5 Abs. 1 Satz 1 EStG, ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 19. Oktober 1993 VIII R 14/92, BFHE 172, 456, BStBl II 1993, 891).

Eine ungewisse Verbindlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn ihr Bestehen oder künftiges Entstehen dem Grunde und/oder der Höhe nach wahrscheinlich ist und auch die Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Steuerpflichtige aus dieser Verbindlichkeit in Anspruch genommen wird. Das ist dann der Fall, wenn nach den am Bilanzstichtag objektiv gegebenen und bis zur Aufstellung der Bilanz subjektiv erkennbaren Verhältnissen mehr Gründe für als gegen das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des §249 Abs. 1 Satz 1 HGB sprechen (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 6. Dezember 1995 I R 14/95, BFHE 180, 258, BStBl II 1996, 406, und Schmidt/Weber-Grellet, Einkommensteuergesetz, 15. Aufl., §5 Rz. 376 ff., m. w. N.). Handelt es sich um eine künftige Verbindlichkeit, muß sie wirtschaftlich vor dem Bilanzstichtag verursacht sein; sind ungewisse Verbindlichkeiten wirtschaftlich einem künftigen Wirtschaftsjahr zuzuordnen, dürfen sie das Ergebnis des laufenden Wirtschaftsjahres nicht belasten (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 10. Dezember 1992 XI R 34/91, BFHE 170, 149, BStBl II 1994, 158; in BFHE 172, 456, BStBl II 1993, 891, jeweils m. w. N.).

2. Im Streitfall ist das Entstehen bilanzrechtlich beachtlicher Verbindlichkeiten aus den erteilten Aufträgen noch nicht hinreichend wahrscheinlich und die an den Antrag auf Nachzulassung der Altpräparate anknüpfende öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Einreichung der Unterlagen nach §22 Abs. 1 AMG nicht den Streitjahren zuzuordnen.

a) Die Klägerin hat die für den Weitervertrieb der Altpräparate erforderlichen Untersuchungsaufträge zwar bereits vor den jeweiligen Bilanzstichtagen der Streitjahre erteilt; sie war deshalb aufgrund dieser Verträge rechtlich verpflichtet, das hierfür vereinbarte Entgelt zu zahlen. Das reicht jedoch zur Bildung einer Rückstellung nicht aus. Auch rechtlich bereits entstandene Verbindlichkeiten dürfen nicht passiviert werden, wenn sie sachlich einer anderen Bilanzposition zuzurechnen sind oder wenn für sie ein Bilanzierungsverbot besteht. Beides kommt hier in Betracht. Die zur Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen künftig zu leistenden Zahlungen könnten zu den Herstellungskosten der Arzneimittel gehören, weil sie im Zusammenhang mit dem Antrag auf Nachzulassung der Arzneimittel angefallen sind und die Nachzulassung die Arzneimittel zu einer Ware mit anderer Verkehrsfähigkeit macht (vgl. etwa Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 5. Aufl., §255 HGB Rdnr. 181, m. w. N.); die Klägerin durfte dann bereits aus diesem Grunde keine Rückstellung bilden (BFH-Urteile vom 4. Februar 1958 I 326/56 U, BFHE 66, 285, BStBl III 1958, 110, 112; vom 1. April 1981 I R 27/79, BFHE 133, 386, BStBl II 1981, 660, unter III. 4. b der Gründe; vom 30. Januar 1990 VIII R 183/85, BFH/NV 1990, 504; zum Streitstand vgl. u. a. Lambrecht in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, §5 Rdnr. D 65, und Schmidt/ Weber-Grellet, a.a.O., §5 Rz. 369). Die künftigen Zahlungen können aber auch zu den Vertriebskosten der Arzneimittel gehören, weil die fehlende Nachzulassung nur den Vertrieb der Altpräparate im Inland verhindert (§21 Abs. 1 AMG). Sie sind dann zwar nicht den Herstellungskosten der Arzneimittel zuzurechnen (§255 Abs. 1 HGB und dazu näher Adler/Düring/Schmaltz, a.a.O., §255 HGB Rdnr. 245 ff.); für sie darf aber deshalb keine Rückstellung gebildet werden, weil der ihnen zugrundeliegende Vertrag noch nicht erfüllt ist (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 24. November 1983 I R 150/77, BFHE 140, 193, BStBl II 1984, 299; vom 20. Januar 1993 I R 115/91, BFHE 170, 234, BStBl II 1993, 373, unter II. 4. der Gründe; vom 15. April 1993 IV R 75/91, BFHE 171, 434, unter 2. der Gründe, m. w. N.). Denn bis zur Erfüllung durch den Sach- oder Dienstleistungsverpflichteten ist ein gegenseitiger Vertrag noch in der Schwebe und deshalb mit erheblichen wirtschaftlichen und rechtlichen Risiken behaftet (BFH-Urteil vom 20. Mai 1992 X R 49/89, BFHE 168, 182, BStBl II 1992, 904, unter 1. e der Gründe; Döllerer, Betriebs- Berater -- BB -- 1980, 1333, 1335). Vor Beendigung des Schwebezustandes sind -- von hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen abgesehen -- weder Gewinne noch Verluste aus dem Geschäft realisiert (BFH-Urteil vom 10. April 1991 II R 118/86, BFHE 164, 448, BStBl II 1991, 620, unter II. 2. b der Gründe; Woerner, BB 1988, 769, 771; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl., S. 141).

b) Die Klägerin durfte auch keine Rückstellung wegen der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung bilden, den Antrag auf Nachzulassung der Altpräparate durch die in §22 AMG vorgeschriebenen Expertisen zu belegen. Eine gesetzliche Verpflichtung kann zwar auch dann, wenn es zu ihrer Erfüllung des Abschlusses eines gegenseitigen Vertrags bedarf, zur Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten führen. So hat der BFH z. B. für die öffentlich- rechtliche Verpflichtung zur Aufstellung und Veröffentlichung des Jahresabschlusses die Bildung einer Rückstellung auch dann gefordert, wenn der Jahresabschluß noch nicht erstellt und damit der am Bilanzstichtag bereits abgeschlossene Beratervertrag noch nicht erfüllt war; die Rückstellung habe ihren Grund nicht in dem -- noch schwebenden -- Vertrag, sondern in der diesem vorgelagerten gesetzlichen Verpflichtung (BFH-Urteil vom 20. März 1980 IV R 89/79, BFHE 130, 165, BStBl II 1980, 297; zur Abgrenzung vgl. BFH-Urteil vom 24. August 1983 I R 16/79, BFHE 140, 167, BStBl II 1984, 273, unter II. 2. der Gründe). Ein vergleichbarer Sachverhalt liegt hier aber nicht vor. Im Gegensatz zu den Jahresabschlußkosten gelten die für die Nachzulassung der Altpräparate entstehenden Kosten nicht Vergangenes ab (vgl. dazu BFH- Urteile vom 19. Mai 1987 VIII R 327/83, BFHE 150, 140, BStBl II 1987, 848; vom 3. Dezember 1991 VIII R 88/87, BFHE 167, 322, BStBl II 1993, 89; in BFHE 171, 434, unter 5. der Gründe); sie sollen vielmehr künftige Gewinnchancen ermöglichen (BFH-Urteil vom 25. August 1989 III R 95/87, BFHE 158, 58, BStBl II 1989, 893, und Beschluß vom 24. Januar 1990 I B 112/88, BFH/NV 1991, 434; zur Zuordnung ungewisser Verbindlichkeiten zu künftigen Gewinnen vgl. auch BFH-Urteil vom 28. Juni 1989 I R 86/85, BFHE 157, 416, BStBl II 1990, 550, und Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28. Januar 1991 II ZR 20/90, BB 1991, 507, und Moxter, Bilanzrechtsprechung, 4. Aufl., S. 102, 112 ff.; Woerner, Festschrift für Moxter, 1994, S. 496 ff.). Die Kosten mindern deshalb die Gewinne der Streitjahre noch nicht. Denn die Klägerin konnte die zur Nachzulassung gemeldeten Altpräparate bis zum 31. Dezember 1992 -- und damit während der Streitjahre -- ohne jede Einschränkung weitervertreiben (Art. 2 Nr. 1 lit. a bb des Viertes Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes).

 

Fundstellen

Haufe-Index 66459

BFH/NV 1998, 22

DStRE 1998, 37

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