Entscheidungsstichwort (Thema)

Unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung

 

Leitsatz (NV)

Greift eine Klägerin gegen sie gerichtete Umsatzsteuer-Schätzungsbescheide mit der Behauptung an, sie habe in den Streitjahren keine Umsätze ausgeführt, und bietet sie hierfür Zeugenbeweis an, so kann das FG ohne Vernehmung der Zeugin nicht verfahrensfehlerfrei zu der Überzeugung gelangen, das Gegenteil der Behauptung der Klägerin sei richtig. Hierin liegt eine unzulässige vorweggenommene Würdigung des von der Klägerin für die Richtigkeit ihrer Sachverhaltsdarstellung angebotenen Beweises.

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 1, § 81 Abs. 1 S. 2, § 96 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Köln

 

Tatbestand

Die aus Eheleuten bestehende Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, betrieb ab Herbst 1982 ein Unternehmen, dessen Gegenstand bei der Gewerbeanmeldung bezeichnet wurde mit "Groß- und Einzelhandel mit ... ". Das Gewerbe wurde zum 31. Dezember 1987 abgemeldet.

Aufgrund einer Umsatzsteuersonderprüfung (Bericht vom 8. April 1986) ergingen erstmalig Umsatzsteuerbescheide 1982 bis 1984 gegen die Klägerin.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) schätzte die Besteuerungsgrundlagen für die Streitjahre (1985 und 1986), weil die Klägerin keine Umsatzsteuererklärungen abgegeben hatte. Das FA setzte, jeweils mit Bescheid vom 21. November 1988, die Umsatzsteuer 1985 auf ... DM sowie die Umsatzsteuer 1986 auf ... DM fest.

Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.

Während des finanzgerichtlichen Verfahrens beantragte die Klägerin zum Nachweis der Tatsache, daß sie in den Streitjahren keine Umsätze ausgeführt habe, u. a. die Vernehmung der Umsatzsteuersonderprüferin als Zeugin.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage -- ohne Beweisaufnahme -- als unbegründet ab.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat der Senat die Revision zugelassen wegen der Rüge mangelnder Sachverhaltsaufklärung durch das Übergehen des Beweisangebots, die Umsatzsteuersonderprüferin zur Höhe der Umsätze der Klägerin zu vernehmen.

Mit der daraufhin eingelegten Revision rügt die Klägerin Verletzung formellen und materiellen Rechts und beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Das FG ist der ihm obliegenden Ermittlungspflicht (§76 FGO) nicht in vollem Umfang nachgekommen. Es hätte dem -- entscheidungserheblichen -- Beweisantrag der Klägerin stattgeben müssen, die Umsatzsteuersonderprüferin zu der behaupteten Tatsache zu vernehmen, sie (die Klägerin) habe in den Streitjahren keine Leistungen gegen Entgelt im Rahmen ihres Unternehmens ausgeführt. Das FG hat die erforderliche Beweisaufnahme unterlassen, weil es -- ohne ihr Ergebnis zu kennen -- das Gegenteil als erwiesen ansah. Darin liegt zugleich eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung.

1. Die Klägerin hat den Verfahrensmangel der unterlassenen Beweiserhebung hinreichend durch die Bezugnahme auf die Begründung ihrer erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerde gerügt (§120 Abs. 2 Satz 2 FGO), weil diese eine eingehende Bezeichnung der Tatsachen enthält (vgl. zur ordnungsgemäßen Rüge der unterlassenen Beweiserhebung: Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. März 1992 II B 201/91, BFHE 166, 574, BStBl II 1992, 562), die den Verfahrensmangel ergeben (vgl. zur Begründung des Verfahrensmangels durch Bezugnahme auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde: BFH-Urteile vom 18. März 1981 I R 102/77, BFHE 133, 247, BStBl II 1981, 578, und vom 17. März 1994 V R 92/91, BFH/NV 1995, 314).

2. Nach §76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es ist dabei zwar an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§76 Abs. 1 Satz 5 FGO), darf aber auf die von einem Beteiligten beantragte Beweiserhebung im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (vgl. BFH-Urteile vom 19. September 1985 VII R 164/84, BFH/NV 1986, 674, und vom 13. März 1996 II R 39/94, BFH/NV 1996, 757; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §76 Rz. 24). Keiner dieser Gründe lag im Streitfall vor.

Das FG hat die angefochtenen Schätzungsbescheide dem Grunde und der Höhe nach als rechtmäßig erachtet. Es konnte jedoch ohne Vernehmung der Zeugin nicht verfahrensfehlerfrei zu der Überzeugung gelangen, das Gegenteil der Behauptung der Klägerin, sie habe in den Streitjahren keine Umsätze ausgeführt, sei richtig. Hierin liegt eine unzulässige vorweggenommene Würdigung des von der Klägerin angebotenen Beweises für ihre Sachverhaltsdarstellung (vgl. zum Verbot einer vorweggenommenen Beweiswürdigung: BFH-Urteile vom 19. Juli 1994 VIII R 60/93, BFH/NV 1995, 717, und vom 15. Mai 1996 X R 252--253/93, BFH/NV 1996, 906).

3. Da schon die Verletzung des §76 FGO und der Verstoß gegen das Verbot der Vorwegnahme der Beweiswürdigung zur Aufhebung der Vorentscheidung führen, braucht der Senat nicht darauf einzugehen, ob die angefochtene Entscheidung weitere Rechtsverstöße enthält.

 

Fundstellen

BFH/NV 1998, 711

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