Entscheidungsstichwort (Thema)

Entscheidung über nicht anhängige Klage als Verfahrensfehler; Rentenbescheide als Grundlagenbescheide für die Steuerfestsetzung

 

Leitsatz (NV)

1. Stimmt das Finanzamt einer Sprungklage nicht zu, ist diese gemäß § 45 Abs. 3 FGO als Einspruch zu behandeln und ist nicht mehr anhängig gemäß § 66 FGO. Entscheidet das FG gleichwohl über die Klage, liegt hierin ein Verstoß gegen § 66 FGO, der ohne Revisionsrüge vom BFH von Amts wegen zu beachten ist.

2. Rentenbescheide sind im Hinblick auf die Rentenbezugsdauer keine Grundlagenbescheide gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO für die Einkommensteuerfestsetzung.

 

Normenkette

FGO §§ 66, 118; AO § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

FG München (Urteil vom 29.06.2006; Aktenzeichen 6 K 1586/04; EFG 2006, 1881)

 

Tatbestand

I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden in den Streitjahren 1998 bis 2001 zusammen veranlagt.

Die Klägerin bezog in den Streitjahren eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Diese wurde in einem Rentenbescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom März 1997 zunächst vom 17. Juli 1996 bis zum 31. Dezember 1998 gewährt. Mit Rentenbescheiden vom Juli 1999 und vom März 2000 verlängerte die BfA die Rente zweimal bis zum Ablauf des Monats Dezember 2001. Ohne Verlängerung und neue Antragstellung wäre die Rente zum jeweiligen Ablaufstichtag entfallen.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) legte in den Einkommensteuerbescheiden der Streitjahre die von den Klägern erklärten Rentenbezüge aus der Erwerbsunfähigkeitsrente mit einem Ertragsanteil von 41 % bei den sonstigen Einkünften der Besteuerung zugrunde. Die Einkommensteuerbescheide für alle Streitjahre wurden formell bestandskräftig und standen nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.

Mit Schreiben vom 23. Oktober 2003 erhoben die Kläger einen "Widerspruch" gegen die Einkommensteuerbescheide 1996, 1997 und der Streitjahre, weil das FA den Ertragsanteil für die Rente in allen Bescheiden zu hoch angesetzt habe. Das FA teilte den Klägern während des Einspruchsverfahrens in einem Schreiben vom 30. Oktober 2003 mit, es sehe die Einkommensteuerbescheide als bestandskräftig an, könne keine Änderungs- oder Berichtigungsmöglichkeit nach den Vorschriften der Abgabenordnung (AO) erkennen und bitte um Gegenäußerung, ob die Einsprüche zurückgenommen werden sollten. Eine Gegenäußerung der Kläger hierauf erfolgte nicht. In der Einspruchsentscheidung vom 9. März 2004 verwarf das FA daraufhin die Einsprüche wegen Verfristung als unzulässig und verneinte in der Begründung auch die Änderbarkeit der bestandskräftigen Steuerbescheide gemäß §§ 129, 173 AO.

Das Finanzgericht (FG) München, Außensenate Augsburg, behandelte den "Widerspruch" der Kläger vom 23. Oktober 2003 als Antrag auf Änderung der bestandskräftigen Bescheide und die Klage als Verpflichtungsklage. Ein abgeschlossenes außergerichtliches Vorverfahren gemäß § 44 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liege vor. Das FA habe über den Änderungsantrag zwar nicht ausdrücklich entschieden. Es habe in der Einspruchsbegründung aber eine Änderungsmöglichkeit verneint und somit eine endgültige Überprüfung des Begehrens der Kläger vorgenommen. Das FG gab der Klage für die Streitjahre weitgehend statt. Seine Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 1881 veröffentlicht.

Mit der Revision macht das FA geltend, Rentenbescheide seien keine Grundlagenbescheide, soweit sie den Beginn und das Ende der Rentenzahlung festsetzten. Die Entscheidung des FG stehe im Widerspruch zu den Grundsätzen, die der erkennende Senat im Beschluss vom 17. Mai 2000 X B 20/00 (BFH/NV 2001, 156) dargelegt habe.

Das FA beantragt,

das FG-Urteil aufzuheben, soweit der Beklagte verpflichtet werde, geänderte Bescheide für die Streitjahre 1998 bis 2001 zu erlassen und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, soweit sie die Streitjahre betrifft (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Die Sache ist spruchreif. Die Klage wird für die Streitjahre als unzulässig abgewiesen.

1. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat von Amts wegen auch noch im Revisionsverfahren das Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzungen im finanzgerichtlichen Klageverfahren zu prüfen (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 16. November 1984 VI R 176/82, BFHE 143, 27, BStBl II 1985, 266; vom 19. Mai 2004 III R 18/02, BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980). Im Streitfall ist das gemäß § 44 FGO erforderliche Vorverfahren für das Verpflichtungsbegehren der Kläger nicht durchgeführt worden. Die Verpflichtungsklage ist mangels Zustimmung des FA nicht als Sprungverpflichtungsklage gemäß § 45 FGO zulässig und somit kraft Gesetzes als Einspruch zu behandeln (§ 45 Abs. 3 FGO). Das FG hat damit über eine nicht anhängige Klage in der Sache entschieden.

a) Gemäß § 44 Abs. 1 FGO ist eine Verpflichtungsklage (§ 40 Abs. 1 Halbsatz 2 FGO) --vorbehaltlich der §§ 45 und 46 FGO-- nur zulässig, wenn das Vorverfahren über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt.

aa) Das FG hat den "Widerspruch" vom 23. Oktober 2003 zutreffend auch als Antrag auf Änderung der formell bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide der Streitjahre behandelt.

bb) Das während des Rechtsbehelfsverfahrens gefertigte Schreiben des FA vom 30. Oktober 2003 ist kein Verwaltungsakt, mit dem das FA diesen Antrag verbindlich abschlägig beschieden hat.

Bei der Auslegung einer Erklärung ist ausschlaggebend, wie der Adressat nach den ihm bekannten Umständen den materiellen Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte. Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde (vgl. BFH-Urteile vom 11. Mai 1999 IX R 72/96, BFH/NV 1999, 1446, m.w.N.; in BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980). Maßgebend ist, ob einer Erklärung aus der Sicht eines objektiven Betrachters Regelungscharakter zukommt (BFH-Urteile vom 3. Juli 2002 XI R 20/01, BFHE 199, 6, BStBl II 2002, 842; in BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980; vom 24. Juni 2008 IX R 64/06, BFH/NV 2008, 1676). Bedeutsam für die Auslegung der Erklärung sind deren Wortlaut und Begründung. Fehlt eine Rechtsbehelfsbelehrung, kann diesem Umstand indizielle Bedeutung für die Beurteilung zukommen, ob ein Verwaltungsakt vorliegt, ohne dass allein dadurch einem Verwaltungsakt der Regelungscharakter genommen wird.

Die Kläger konnten dieses Schreiben nach der Überzeugung des Senats aus dem Blickwinkel eines objektiven Empfängers nicht als Ablehnungsbescheid zu ihrem Änderungsantrag verstehen. Das FA teilte den Klägern lediglich seine vorläufige Rechtsauffassung mit, es halte die Einsprüche für verfristet und deshalb für unzulässig. Es verneinte zwar auch eine Änderungs- oder Berichtigungsmöglichkeit der bestandskräftigen Bescheide nach den Vorschriften der AO. Eine inhaltlich verbindliche Entscheidung wollte das FA aber nicht treffen. Diese Auslegung wird auch dadurch gestützt, dass das FA den Klägern im Streitfall eine Frist zur Gegenäußerung gesetzt, eine abschließende Einspruchsentscheidung angekündigt und das Schreiben nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen hat.

cc) Mit der Einspruchsentscheidung vom 9. März 2004 hat das FA erstmals verbindlich über das Änderungsbegehren ablehnend entschieden.

Es hat in der Einspruchsentscheidung zum einen die Einsprüche gegen die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre als unzulässig verworfen und sich zur Begründung auf deren Verfristung gestützt. Daneben hat es in der Einspruchsentscheidung auch über das Änderungsbegehren der Kläger entschieden und den Änderungsantrag abgelehnt, weil es weder eine Änderungs- noch eine Berichtigungsmöglichkeit der bestandskräftigen Bescheide nach den Änderungsvorschriften der AO (§§ 129, 172 ff.) für anwendbar gehalten hat.

Die Grundsätze, nach denen ein abgeschlossenes Vorverfahren auch vorliegt, wenn die Finanzbehörde eine unvollständige Einspruchsentscheidung erlässt (vgl. Senatsurteil vom 27. September 2001 X R 134/98, BFHE 196, 400, BStBl II 2002, 176), können im Streitfall nicht zur Anwendung kommen. Ein Einspruchsverfahren ist wegen des abgelehnten Änderungsbegehrens der Kläger weder geführt noch durch die Einspruchsentscheidung vom 9. März 2004 abgeschlossen worden. Die Einspruchsentscheidung vom 9. März 2004 hat insofern nur das Einspruchsverfahren wegen des Anfechtungsbegehrens der Kläger abgeschlossen (vgl. hierzu auch BFH-Urteil vom 19. Mai 2004 III R 36/02, BFH/NV 2004, 1655).

b) Gegen den Ablehnungsbescheid haben die Kläger beim FG demnach ohne ein abgeschlossenes Vorverfahren Klage erhoben.

aa) Das FG hat die Klage zutreffend nur als Verpflichtungsklage ausgelegt, weil eine Anfechtungsklage gegen die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide in Gestalt der Einspruchsentscheidung ohnehin erfolglos geblieben wäre.

bb) Die Klage ist im Streitfall nicht als Sprungverpflichtungsklage gemäß § 45 Abs. 1 FGO zulässig. Das FA hat nicht die gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO notwendige Zustimmung erklärt. Die Zustimmung erfordert eine ausdrückliche prozessuale Erklärung gegenüber dem Gericht. Das Schweigen des FA reicht ebenso wenig aus wie die rügelose Einlassung zur Sache (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980).

c) Die ursprüngliche Verpflichtungsklage ist deshalb kraft gesetzlicher Anordnung in § 45 Abs. 3 FGO als Einspruch zu behandeln. Diese "Umwandlung" bedarf weder der Mitwirkung noch der Zustimmung der Kläger (BFH-Beschluss vom 29. Januar 1986 I B 37/85, BFH/NV 1986, 678). Mit dem Übergang der erhobenen Klage in den Status des nicht beschiedenen Einspruchs ist die Klage so zu behandeln, als sei sie von Beginn an nicht i.S. des § 66 FGO bei Gericht anhängig (Senatsurteil vom 15. Oktober 2003 X R 48/01, BFHE 204, 1, BStBl II 2004, 169; BFH-Beschluss vom 10. September 1996 II B 78/96, BFH/NV 1997, 56; vgl. auch Ziffer 3110 aus Anlage 1 zu § 11 des Gerichtskostengesetzes in der für vor dem 30. Juni 2004 erhobene Klagen geltenden Fassung, nach der keine Verfahrensgebühr anfällt). Entscheidet das FG gleichwohl --wie im Streitfall-- über die nicht anhängige Klage durch Sachurteil, liegt hierin ein Verstoß gegen § 66 FGO, der auch ohne Revisionsrüge von Amts wegen zu beachten ist (BFH-Urteil vom 8. Oktober 1986 I R 113/86, BFH/NV 1988, 32).

d) Die Zulässigkeit der Klage als Untätigkeitsklage gemäß § 46 Abs. 1 FGO kommt ebenfalls nicht in Betracht, da die Klage nach dem Übergang in das Stadium des unbeschiedenen Einspruchs nicht mehr anhängig ist.

2. Aus verfahrensökonomischen Gründen weist der Senat für die zu treffende Einspruchsentscheidung auf Folgendes hin:

a) Das FG hat zu Unrecht die Änderungsmöglichkeit der Einkommensteuerbescheide gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO bejaht. Die Rentenbescheide sind im Hinblick auf die Rentenbezugsdauer keine Grundlagenbescheide für die Einkommensteuerfestsetzung i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Zur Begründung verweist der Senat auf den Beschluss in BFH/NV 2001, 156. Für eine Grundlagenfunktion fehlt es --wie das FA zutreffend darlegt-- an der erforderlichen Bindungswirkung der Festsetzung über die Rentenbezugsdauer für die Einkommensteuerfestsetzung. Die Rentenbezugsdauer ist keine Besteuerungsgrundlage, die im Folgebescheid (der Einkommensteuerfestsetzung) auszuwerten und zu übernehmen wäre. Sie ist lediglich eine im Rahmen der eigenständigen einkommensteuerrechtlichen Würdigung zu beachtende Tatsache und Maßgröße zur Ermittlung des Ertragsanteils.

b) Eine Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO kommt ebenfalls nicht in Betracht, da es an einer nachträglich bekanntgewordenen Tatsache im Sinne der Vorschrift fehlt. Dem FA war aus den Steuererklärungen der Streitjahre die jeweils zutreffende Rentenbezugsdauer bekannt. Es hat --aus welchen Gründen auch immer-- aus den Angaben in den Steuererklärungen den falschen Schluss gezogen, die Klägerin beziehe die Erwerbsunfähigkeitsrente vom 17. Juli 1996 ununterbrochen bis zum 65. Lebensjahr. Durch den Änderungsantrag der Kläger hat es zwar erkannt, dass diese Schlussfolgerung falsch war. Eine neue Schlussfolgerung, die das FA nachträglich aus den bei der Veranlagung bekannten Tatsachen zieht, ist selbst aber keine nachträglich bekanntgewordene Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (vgl. hierzu Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 173 Rz 22).

3. Der Streitfall ist nach Abschluss des Verfahrens formlos an das FA abzugeben (vgl. z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 1997, 56), damit dieses über den Einspruch entscheiden kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2216649

BFH/NV 2009, 1826

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