Entscheidungsstichwort (Thema)

Persönliche Unbilligkeit der Steuererhebung bei ernstlicher Existenzgefährdung

 

Leitsatz (NV)

1. Eine bestandskräftige Steuerfestsetzung kann nur dann durch Erlaß der Steuerschuld korrigiert werden, wenn die Festsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und dem Steuerpflichtigen weder möglich noch zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (Anschluß an BFH-Urteil vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612, m. w. N.).

2. Persönliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Eine derartige Gefährdung ist gegeben, wenn ohne Billigkeitsmaßnahme der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann.

3. Einem alten nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen ist von seinem Vermögen soviel zu belassen, daß er in der Lage ist, eine Versicherung über sofort fällige Leibrentenbezüge gegen eine Einmalprämie abzuschließen, und zwar in einer Höhe, die ihm die Möglichkeit einer bescheidenen Lebensführung gestattet.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 163, 227; FGO § 102

 

Tatbestand

Der im Jahre 1910 geborene Kläger war Kommanditist einer GmbH & Co. KG. Im Jahre 1979 veräußerte er seine Kommanditbeteiligung und die Beteiligung an der GmbH. Die Erwerberin übernahm das negative Kapitatlkonto des Klägers von . . . DM und sagte dem Kläger eine Barzahlung von . . . DM sowie eine lebenslängliche Rente von 3 000 DM monatlich zu. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) berechnete den Veräußerungsgewinn unter Einbeziehung positiver Konten des Klägers mit . . . DM und berücksichtigte ihn im Einkommensteuerbescheid 1979; die Rentenzahlungen versteuerte der Kläger als nachträgliche Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Der Einkommensteuerbescheid erging am 6. Juni 1983; er wurde bestandskräftig.

Die Erwerberin geriet in Vermögensverfall. Von der geschuldeten Barzahlung leistete sie bis 1981 nur . . . DM; die Rentenzahlungen erbrachte sie in den Jahren 1979 bis 1981 in voller Höhe, im Jahre 1982 aber nur in Höhe von 6 000 DM. Im Juli 1983 beantragte der Kläger, die Einkommensteuer 1979 wegen des Ausfalls der Geldforderung in Höhe eines Teilbetrags gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) niedriger festzusetzen oder aus sachlichen Gründen gemäß § 227 AO 1977 zu erlassen, im übrigen aber einen Erlaß aus persönlichen Gründen zu gewähren. Die Erfüllung der Steuerforderung würde die Fortführung der X-KG gefährden, die sich mit . . . beschäftige; an dieser KG sei der Kläger als Komplementär beteiligt. Er habe aus dem Veräußerungserlös die Steuern bezahlen und durch die Rentenzahlung seinen Lebensunterhalt sichern wollen; dies sei ihm nicht mehr möglich.

Das FA lehnte die Anträge des Klägers im Jahre 1984 ab; die hiergegen eingelegte Beschwerde wies die zuständige Oberfinanzdirektion (OFD) im April 1987 zurück. Eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO 1977 komme nicht in Betracht, weil der Einkommensteuerbescheid 1979 bereits vor der Antragstellung bestandskräftig gewesen sei. Ein Erlaß auf Grund von § 227 AO 1977 könne weder aus sachlichen noch aus persönlichen Gründen gewährt werden. Einwendungen gegen die Berechnung des Veräußerungsgewinns könnten nicht im Erlaßverfahren geltend gemacht werden. Der Kläger habe in den Jahren 1983 bis 1985 Einkünfte aus der Beteiligung an der KG sowie in geringerem Umfang aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung gehabt. Im Jahre 1986 habe er noch vorhandenen Grundbesitz auf seinen Enkel, im wesentlichen aber auf seinen Sohn übertragen; dieser habe ihm eine monatliche Leibrente von 1 750 DM sowie ein Wohnrecht an einer Wohnung eingeräumt. Neben der inzwischen in einen Kommanditanteil umgewandelten Beteiligung an der KG verfüge der Kläger noch über Sparbriefe und eine Grundstücksbeteiligung im Werte von 45 000 DM. Der Kläger sei auch nicht erlaßwürdig, weil in den Jahren 1983 bis 1985 in der KG überhöhte Entnahmen getätigt und den Grundbesitz um 77 000 DM unter dem Verkehrswert übertragen habe; darüber hinaus habe er Eigentümergrundschulden von 200 000 DM auf den übertragenen Grundbesitz zugunsten seines Sohnes abgetreten.

Die hiergegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassene Revision, mit der die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt wird.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Mit seinem Rechtsmittel begehrt der Kläger die Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen nur noch insoweit, als hierin über sein Erlaßbegehren nach § 227 AO 1977 befunden worden ist. In der Ablehnung lag eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde, die gerichtlich nur in den durch § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen überprüfbar ist (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich auf die Frage, ob die Finanzbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der zugrunde liegenden gesetzlichen Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Dies ist nicht der Fall.

Bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung hatte das FG die Tatsachen zugrunde zu legen, die zur Zeit der letzten Verwaltungsentscheidung, d. h. der Beschwerdeentscheidung, gegeben waren (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 24. November 1987 VII R 138/84, BFHE 152, 289, BStBl II 1988, 364, m. w. N.). Die vom Revisionskläger herangezogene BFH-Entscheidung vom 17. Juli 1985 I R 172/79 (BFHE 145, 1, BStBl II 1986, 122) steht hierzu nicht in Widerspruch. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß bei Anwendung eines Erlasses des Bundesministers der Finanzen (BMF) die Stundung bereits mit der Entscheidung des FA, nicht erst mit der Beschwerdeentscheidung als abgelehnt zu gelten habe. Daß es bei der gerichtlichen Nachprüfung der Stundungsentscheidung auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ankomme, hat der I. Senat noch in seinem Beschluß vom 2. März 1983 I R 192/77 (nicht veröffentlicht - NV -) ausgeführt.

2. Zu Recht hat das FG angenommen, daß ein Billigkeitserlaß aus sachlichen Gründen nicht in Betracht kam. Insbesondere konnte der Kläger mit seinem Vorbringen nicht gehört werden, daß der Veräußerungsgewinn im Hinblick auf den späteren Forderungsausfall zu hoch angesetzt worden sei. Hiermit wird die Höhe der Steuerfestsetzung angegriffen. Der BFH hat aber wiederholt ausgeführt, daß eine bestandskräftige Steuerfestsetzung nur dann durch Erlaß der Steuerschuld korrigiert werden könne, wenn die Festsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig und dem Steuerpflichtigen weder möglich noch zumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (vgl. BFH-Urteil vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612, m. w. N.). Auch vorliegend gehören diese Einwendungen in das Steuerfestsetzungsverfahren. Zum Veräußerungsgewinn des Klägers, der im Rahmen des Gewinnfeststellungsverfahrens für die GmbH & Co. KG festgestellt wird, ist nach Zurückverweisung der Sache im Revisionsverfahren . . . noch ein Rechtsstreit vor dem FG anhängig; hierin kann der Kläger seine Einwendungen vortragen.

3. Zu Recht hat das FG auch das Vorliegen von persönlichen Billigkeitsgründen verneint.

Persönliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Eine derartige Gefährdung ist gegeben, wenn ohne Billigkeitsmaßnahme der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann.

Hierbei spielt, wie der BFH mehrfach hervorgehoben hat (Urteile vom 29. April 1981 IV R 23/78, BFHE 133, 489, BStBl II 1981, 726; vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612), seine Vermögenslage eine besondere Rolle. Grundsätzlich ist der Steuerpflichtige gehalten, zur Begleichung seiner Steuerschuld alle verfügbaren Mittel einzusetzen und auch seine Vermögenssubstanz anzugreifen. Davon ausgenommen sind allerdings die Fälle, in denen die Verwertung der Vermögenssubstanz den Ruin des Steuerpflichtigen bedeuten würde. Dies gilt insbesondere für alte, nicht mehr erwerbsfähige Steuerpflichtige. Ihnen muß wenigstens soviel von ihrem Vermögen belassen werden, daß sie damit für den Rest ihres Lebens eine bescheidene Lebensführung bestreiten können. In diesem Zusammenhang hat es der BFH als brauchbare Erwägung angesehen, einem alten und nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen von seinem Vermögen soviel zu belassen, daß er in der Lage ist, eine Versicherung über sofort fällige Leibrentenbezüge gegen eine Einmalprämie abzuschließen, und zwar in einer Höhe, die ihm die Möglichkeit einer bescheidenen Lebensführung gestattet.

Auf diese Erwägungen kann im Streitfall jedoch nicht zurückgegriffen werden. Denn tatsächlich verfügt der Kläger auf Grund der Vereinbarungen mit seinem Sohn über hinreichende Renteneinkünfte und zusätzlich über ein Wohnrecht, das ihm Aufwendungen für Miete erspart. Der Begründung weiterer Rentenansprüche durch Einsatz vorhandenen Vermögens bedurfte es daher nicht; dem Steuergläubiger kann in dieser Lage der Zugriff auf dieses Vermögen nicht verweigert werden (vgl. BFH-Beschluß vom 27. Januar 1982 I B 90/81, NV). Die Rechtsprechung hat in diesem Zusammenhang auch Unterhaltsansprüche berücksichtigt, die dem Steuerpflichtigen gegenüber dem Ehegatten oder seinen Kindern zustanden (BFH-Beschluß vom 31. März 1982 I B 97/81, BFHE 135, 410, BStBl II 1982 530; Beschluß vom 3. Oktober 1988 IV S 5/86, BFH/NV 1989, 411); derartige Ansprüche bestanden für den Kläger gegenüber seinem Sohn. Ob bei den Einkünften des Klägers auch sein Anteil am Gewinn der KG zu berücksichtigen ist oder ob dies unterbleiben muß, weil er angesichts seines negativen Kapitalkontos kein Entnahmerecht hatte, bedarf darum keiner Prüfung. Ebenso kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger im Hinblick auf die Vermögensübertragungen auf seinen Enkel und seinen Sohn und unter Berücksichtigung seiner Entnahmen aus der KG entsprechend der Auffassung der Finanzbehörde und des FG als erlaßunwürdig anzusehen ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 417658

BFH/NV 1991, 430

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