Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermäßigte Quellensteuer nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-RUS

 

Leitsatz (amtlich)

Die Quellensteuer auf Dividenden einer deutschen Kapitalgesellschaft ist nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland nur dann auf 5 v.H. der Dividende zu reduzieren, wenn der Nominalwert der Beteiligung mindestens 160 000 DM (81 806,70 €) beträgt.

 

Normenkette

DBA RUS Art. 10 Abs. 1 Buchst. a

 

Verfahrensgang

FG Köln (Entscheidung vom 07.05.2003; Aktenzeichen 2 K 2587/02; EFG 2003, 1174)

 

Tatbestand

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob von einer deutschen GmbH ausgeschüttete Dividenden nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (DBA-Russland) einer Quellenbesteuerung von 5 v.H. oder von 15 v.H. unterliegen.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine russische Kapitalgesellschaft, war in den Streitjahren (1996 bis 1998) an der deutschen R-GmbH beteiligt. Das Stammkapital der R-GmbH belief sich auf 150 000 DM, der Anteil der Klägerin hieran auf 70 005 DM.

Die R-GmbH schüttete in den Jahren 1997 bis 1999 für die Streitjahre … DM (1996), … DM (1997) und … DM (1998) an die Klägerin aus. Sie behielt von den Ausschüttungen jeweils Kapitalertragsteuer ein und führte die Abzugsbeträge an das zuständige Finanzamt ab.

Auf einen Antrag der Klägerin hin erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (Bundesamt für Finanzen ―BfF―) am 20. Januar 1998 einen Freistellungsbescheid für 1996, in dem er u.a. davon ausging, dass die Ausschüttung der R-GmbH nur mit 15 v.H. zu besteuern sei. Dies führte zu einer Erstattung von … DM Kapitalertragsteuer. Am 28. Januar 1998 erging ein zweiter Bescheid, mit dem das BfF unter Hinweis auf eine Änderung des DBA-Russland weitere … DM von der Steuer freistellte. Beide genannten Bescheide standen gemäß § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Ihnen entsprechend beantragte und erhielt die Klägerin auch für 1997 und 1998 Freistellungsbescheide, in denen die Kapitalertragsteuer auf 5 v.H. der Ausschüttungsbeträge reduziert wurde.

Im Dezember 2000 teilten die steuerlichen Vertreter der R-GmbH mit, dass nach ihrer Ansicht die Kapitalertragsteuer nur auf 15 v.H. der Ausschüttungsbeträge reduziert werden dürfe. Daraufhin erließ das BfF für alle Streitjahre geänderte Freistellungsbescheide, in denen es von einer Besteuerung in Höhe von 15 v.H. der Ausschüttungsbeträge ausging. Die gegen die Änderungsbescheide gerichtete Klage hat das Finanzgericht (FG) abgewiesen; sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2003, 1174 abgedruckt.

Mit ihrer vom FG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland. Sie beantragt, das erstinstanzliche Urteil und die angefochtenen Änderungsbescheide aufzuheben.

Das BfF beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet und war deshalb gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind.

1. Die Klägerin hat in den Streitjahren von einer deutschen GmbH Dividenden bezogen. Zwischen den Beteiligten ist zu Recht unstreitig, dass sie damit inländische Kapitalerträge i.S. des § 43 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erzielt hat, die der Kapitalertragsteuer unterlagen (§ 43 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 4 EStG). Die Kapitalertragsteuer beläuft sich auf 25 v.H. der Ausschüttungsbeträge (§ 43a Abs. 1 Nr. 1 EStG) und musste von der R-GmbH unabhängig von den Regelungen des DBA-Russland (§ 50d Abs. 1 Satz 1 EStG) in dieser Höhe einbehalten und abgeführt werden (§ 44 Abs. 1 EStG).

Die Klägerin kann jedoch eine Erstattung der von der R-GmbH einbehaltenen und abgeführten Beträge verlangen, soweit ihre Dividendeneinkünfte nach dem DBA-Russland in Deutschland nur einem niedrigeren Steuersatz unterworfen werden dürfen (§ 50d Abs. 1 Satz 2 EStG). Rechtsgrundlage für eine solche Erstattung ist ein Freistellungsbescheid i.S. des § 155 Abs. 2 AO 1977 (Senatsurteil vom 11. Oktober 2000 I R 34/99, BFHE 193, 336, BStBl II 2001, 291, 292, m.w.N.), für dessen Erlass das BfF zuständig ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Finanzverwaltung). Vor diesem Hintergrund streiten die Beteiligten im vorliegenden Verfahren darüber, ob das BfF in den angefochtenen Freistellungsbescheiden zu Recht davon ausgegangen ist, dass die Ausschüttungen an die Klägerin nach dem DBA-Russland in Deutschland mit 15 v.H. besteuert werden dürfen.

2. Nach Art. 10 Abs. 1 DBA-Russland darf jeder Vertragsstaat Dividenden, die eine in ihm ansässige Gesellschaft an eine im anderen Vertragsstaat ansässige Person zahlt, nach seinem Recht besteuern. Die Steuer darf aber 5 v.H. des Bruttobetrags der Dividende nicht übersteigen, wenn der Nutzungsberechtigte eine Gesellschaft ist, die unmittelbar über mindestens 10 v.H. des Grund- oder Stammkapitals der die Dividenden zahlenden Gesellschaft verfügt, und dieser Kapitalanteil ―nach der im Streitfall maßgeblichen Fassung der Vorschrift― mindestens 160 000 DM oder den entsprechenden Wert in Rubeln beträgt (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland). In allen anderen Fällen ist das Besteuerungsrecht dieses Staates (Quellenstaat) auf 15 v.H. des Bruttobetrags der Dividende begrenzt (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b DBA-Russland).

3. Der Klägerin steht hiernach nur eine Ermäßigung der Kapitalertragsteuer auf 15 v.H. der Ausschüttungsbeträge zu. Denn sie war zwar am Kapital der R-GmbH mit mehr als 10 v.H. beteiligt. Ihr Kapitalanteil belief sich jedoch auf weniger als 160 000 DM, so dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland im Streitfall nicht eingreift.

a) Nach den Feststellungen des FG, die nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angefochten wurden und deshalb im Revisionsverfahren bindend sind (§ 118 Abs. 2 FGO), betrug der Nominalwert der Beteiligung der Klägerin am Stammkapital der R-GmbH 70 005 DM. Nur auf diesen Wert, und nicht auf einen ggf. höheren Verkehrswert der Beteiligung, kommt es im Zusammenhang mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland an.

aa) Der Begriff "Kapitalanteil" ist im DBA-Russland nicht definiert. Das bedeutet jedoch entgegen der Ansicht der Klägerin nicht, dass insoweit unmittelbar auf das deutsche Handelsrecht und speziell auf die zu §§ 120 ff. und §§ 155 f. des Handelsgesetzbuchs (HGB) entwickelten Begriffsbestimmungen zurückzugreifen wäre. Vielmehr ist gemäß Art. 3 Abs. 2 DBA-Russland vorrangig auf den Sinnzusammenhang des Abkommens abzustellen. Dabei sind u.a. die erkennbaren Vorstellungen der Vertragsparteien sowie diejenigen Begriffsinhalte zu berücksichtigen, die zu vergleichbaren anderen Abkommenstexten entwickelt worden sind. Abgesehen davon sind die von der Klägerin in Anspruch genommenen handelsrechtlichen Vorschriften im Streitfall schon deshalb nicht einschlägig, weil sie ausschließlich Anteile an Personengesellschaften betreffen, während es hier um die Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft geht.

bb) Das FG hat zu Recht angenommen, dass der Wortlaut des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland für eine Maßgeblichkeit des Nominalwerts der Beteiligung spricht. Denn wenn es dort heißt, dass "dieser Kapitalanteil" mindestens 160 000 DM betragen müsse, wird damit auf die zuvor verlangte Beteiligung von 10 v.H. am Grund- oder Stammkapital Bezug genommen. Mit der Beteiligung am "Grund- oder Stammkapital" ist aber, da dieses Kapital sowohl nach deutschem (z.B. § 6 des Aktiengesetzes; § 5 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung) als auch nach russischem Recht (vgl. hierzu Wagner in Debatin/Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 10 DBA-Russland Rz. 12) mit dem Nennwert auszuweisen ist, ersichtlich der Anteil an diesem Wert gemeint. Dafür spricht zudem, dass der Kommentar zum OECD-Musterabkommen (OECD-MustAbk) den Begriff "Kapital" i.S. des Kapitals im gesellschaftsrechtlichen Sinne und ohne Berücksichtigung von Reserven definiert (Nr. 15 OECD-MustAbk zu Art. 10). Gegenüber dieser Definition haben weder Deutschland oder Russland Vorbehalte angebracht. Wenn nunmehr das DBA-Russland im Zusammenhang mit der betragsmäßigen Wertgrenze ohne weitere Differenzierung auf den so definierten Kapitalanteil verweist, spricht dies dafür, dass es insoweit ebenfalls auf den Nominalwert der Beteiligung ankommen soll. Hätte Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland nur hinsichtlich der prozentualen Beteiligung auf den Nennwert, bei der absoluten Wertgrenze aber auf einen anderen Wert abstellen wollen, so hätte diese Unterscheidung in irgendeiner Form zum Ausdruck gebracht werden müssen.

cc) Hinzu kommt, dass die von der Klägerin befürwortete Anknüpfung an den Verkehrswert in der praktischen Umsetzung zu erheblichen Schwierigkeiten führen muss. Das gilt nicht nur deshalb, weil der Verkehrswert einer Beteiligung häufig nur schwer zu bestimmen ist. Er kann vielmehr im zeitlichen Verlauf auch schwanken. Deshalb kann es in der Praxis insbesondere vorkommen, dass der Verkehrswert zu bestimmten Zeitpunkten unter, zu anderen hingegen über 160 000 DM liegt. Angesichts dessen wäre es in hohem Maße unpraktikabel, wenn der Umfang des Besteuerungsrechts davon abhinge, welchen Verkehrswert die Beteiligung des Dividendenempfängers im Zeitpunkt vor oder nach der Ausschüttung (§ 44 Abs. 1 Satz 2 EStG) hatte. Auch unter diesem Gesichtspunkt verbietet sich die von der Klägerin vertretene Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland. Demgegenüber bietet die Anknüpfung an den Nominalwert der Beteiligung eine zuverlässige und leicht handhabbare Beurteilungsgrundlage für den Umfang des dem Quellenstaat zustehenden Besteuerungsrechts; sie ist gerade unter diesem Gesichtspunkt vorzugswürdig.

dd) Der Klägerin ist zuzugeben, dass bei einer solchen Auslegung Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland immer dann nicht eingreifen kann, wenn ―wie im Streitfall― das Grund- oder Stammkapital der ausschüttenden Gesellschaft sich auf weniger als 160 000 DM beläuft. Daraus lässt sich jedoch die von ihr angestrebte Auslegung der Vorschrift nicht ableiten. Die Begrenzung auf Beteiligungen in Höhe von mindestens 160 000 DM dient nämlich ersichtlich dem Ziel, das Schachtelprivileg nur demjenigen Kapitalanleger zu gewähren, der sich in einer bestimmten Größenordnung in dem jeweils anderen Vertragsstaat engagiert; Investitionen geringeren Umfangs gelten aus der Sicht des Abkommens mithin nicht als besonders förderungswürdig. Dabei kann es jedoch keinen Unterschied machen, ob der Anleger einen unter 160 000 DM liegenden Betrag in eine große Gesellschaft investiert und dafür nur einen Teil der Gesellschaftsanteile erhält oder ob er für denselben Betrag alle Anteile an einer kleinen Gesellschaft erwirbt. Es entspricht mithin gerade dem Ziel der Abkommensregelung, auch in dem letztgenannten Fall die Reduzierung der Quellensteuer auf 5 v.H. zu versagen. Deshalb kann die Argumentation der Klägerin weder die vom FG vertretene Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland erschüttern noch eine Nichtanwendung jener Regelung auf den Streitfall rechtfertigen.

ee) Der Senat vermag auch nicht der in der Literatur vertretenen Ansicht zu folgen, Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland sei im Wege einer teleologischen Reduktion dahin auszulegen, dass bei einer Beteiligung von mehr als 25 v.H. am Grund- oder Stammkapital die Quellensteuer unabhängig vom Wert der Beteiligung auf 5 v.H. zu begrenzen sei (Kramer, Internationales Steuerrecht ―IStR― 2003, 159, 160 f.). Es ist zwar richtig, dass eine solche Handhabung sowohl dem OECD-MustAbk als auch den meisten von der Bundesrepublik Deutschland geschlossenen Abkommen und in diesem Sinne einem internationalen Standard entspricht. Jedoch enthält das DBA-Russland insoweit gerade eine von diesem Standard abweichende Regelung. Hätten die Vertragsparteien jede Beteiligung von mehr als 25 v.H. begünstigen und lediglich darüber hinaus bei Beteiligungen zwischen 10 v.H. und 25 v.H. eine weitere Alternative für die Gewährung des Schachtelprivilegs zur Verfügung stellen wollen, so hätte dies im Abkommenstext ohne Schwierigkeiten zum Ausdruck gebracht werden können. Das ist nicht geschehen. Angesichts dessen muss die getroffene Regelung als abschließend verstanden werden; für eine Auslegung des Inhalts, dass auch in anderen Fällen eine Begrenzung der Quellensteuer auf 5 v.H. in Betracht komme, ist kein Raum (ebenso Wagner in Debatin/Wassermeyer, a.a.O., Art. 10 DBA-Russland Rz. 13).

ff) Zu Unrecht beruft sich die Klägerin auf die Verständigungsvereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation, die im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 18. Oktober 2001 (BStBl I 2001, 777) wiedergegeben ist. Dort heißt es zwar u.a., dass die Mindestbeteiligung in Höhe von 160 000 DM bzw. des entsprechenden Werts in Rubeln nur im Zeitpunkt der Investition und nicht zusätzlich im Zeitpunkt der Ausschüttung gegeben sein müsse (Nr. 1 des BMF-Schreibens). Diese Vereinbarung bringt aber nicht zum Ausdruck, dass sich nach dem übereinstimmenden Verständnis der russischen und der deutschen Finanzverwaltung der Wert der Beteiligung nach dem Zeitpunkt der Investition ändern kann (a.A. Kramer, IStR 2003, 159, 161). Sie zielt vielmehr darauf ab, einer möglichen Schwankung der Wechselkurse Rechnung zu tragen; insbesondere soll bei einer Abrechnung in Rubel das Schachtelprivileg nicht dadurch verloren gehen können, dass im Anschluss an die Investition der Kurs des Rubels gegenüber demjenigen der deutschen Währung sinkt (Wagner in Debatin/Wassermeyer, a.a.O., Art. 10 DBA-Russland Rz. 12). Die von der Klägerin angestrebte Anknüpfung der Wertgrenze an den jeweiligen Verkehrswert der Beteiligung vermag die Verständigungsvereinbarung mithin nicht zu stützen.

b) Zu einer abweichenden Beurteilung führen nicht die verschiedenen Staatsverträge, auf die sich die Klägerin zur Stützung ihres Begehrens berufen hat.

aa) Das gilt zunächst für den Vertrag der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen vom 13. Juni 1989 (BGBl II 1990, 343). Art. 3 Abs. 1 und 2 dieses Vertrages verpflichten zwar die Vertragsstaaten, Investoren aus dem jeweils anderen Vertragsstaat nicht weniger günstig zu behandeln als Investoren aus dritten Staaten. Doch bestimmt Art. 3 Abs. 3 ausdrücklich, dass sich dieses Diskriminierungsverbot nicht auf Vorrechte und Vergünstigungen bezieht, die im Zusammenhang mit einem gemeinsamen Markt, einer Zoll- oder Wirtschaftsunion oder einer Freihandelszone oder aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens oder sonstiger Vereinbarungen über Steuerfragen gewährt werden. Angesichts dessen lässt sich aus dem genannten Vertrag weder die von der Klägerin begehrte Auslegung des Art. 10 DBA-Russland noch ein Anspruch der Klägerin auf Gleichbehandlung mit Unternehmen aus EU-Staaten ableiten. Dasselbe gilt im Hinblick auf den Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 9. November 1990 (BGBl II 1991, 703), der im Hinblick auf die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen keine konkreten Rechte für einzelne Personen oder Unternehmen begründet.

bb) Ebenso lässt sich die Position der Klägerin nicht auf das Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zur Gründung einer Partnerschaft zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits vom 24. Juni 1994 (BGBl II 1997, 846) stützen. Dieses Abkommen regelt die hier interessierende Frage der Investitionsbedingungen im Allgemeinen in Titel IV (Art. 23 ff.) und speziell die Niederlassungsmöglichkeiten von Unternehmen in dessen Kapitel II (Art. 28 ff.). Art. 28 des Abkommens enthält zwar verschiedene Meistbegünstigungsklauseln (Abs. 1 und Abs. 2); doch beziehen sich diese ausdrücklich weder auf Vorteile aufgrund von Doppelbesteuerungsabkommen (Art. 49 Abs. 1) noch auf wohnsitzbedingte Differenzierungen (Art. 49 Abs. 3). Folglich kann auch aus diesem Abkommen für die Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland nichts abgeleitet werden; allein der Umstand, dass Art. 58 Abs. 1 des Abkommens u.a. von der Schaffung eines günstigen gegenseitigen Investitionsklimas spricht, reicht entgegen der Ansicht der Klägerin hierfür nicht aus.

Der Senat kann diese Frage selbst beurteilen und muss nicht die von der Klägerin angestrebte Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) einholen. Er ist als letztinstanzliches Gericht zwar nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) im Grundsatz verpflichtet, Fragen zur Auslegung europäischen Gemeinschaftsrechts dem EuGH vorzulegen. Das gilt jedoch nicht, wenn über die richtige Anwendung dieses Rechts kein vernünftiger Zweifel herrschen kann (EuGH-Urteil vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81 "C.I.L.F.I.T.", EuGHE 1982, 3415, Tz. 16). Diese Situation liegt im Streitfall vor, da sich aus Wortlaut und Systematik des maßgeblichen Abkommens klar ergibt, dass hieraus die von der Klägerin angestrebte Rechtsfolge nicht abgeleitet werden kann. Angesichts dessen kann im Streitfall offen bleiben, ob Art. 234 Abs. 3 EGV auch im Zusammenhang mit von der Europäischen Gemeinschaft (EG) abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen gilt, die nur von den einzelnen Mitgliedstaaten erfüllt werden können (vgl. hierzu EuGH-Urteil vom 30. September 1987 Rs. 12/86 "Demirel", EuGHE 1987, 3719, Tz. 7 ff.).

c) Schließlich verstößt die Erhebung der nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. b DBA-Russland zulässigen deutschen Quellensteuer nicht gegen die Regelungen des EGV.

aa) Das gilt zunächst im Hinblick auf die durch Art. 43 (bis 30. April 1999: Art. 52) EGV garantierte Niederlassungsfreiheit. Denn diese steht nur Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats sowie darüber hinaus den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums zu (vgl. hierzu Bröhmer in Calliess/Ruffert, Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., Art. 43 Rz. 7). Für Gesellschaften gilt dies in dem Sinne, dass sie sich dann auf die Niederlassungsfreiheit berufen können, wenn sie nach dem Recht eines der genannten Staaten gegründet worden sind oder in einem jener Staaten ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung haben (Art. 48 Abs. 1 EGV; bis 30. April 1999: Art. 58 Abs. 1 EGV). Die Klägerin erfüllt keine der genannten Voraussetzungen, so dass ihr die gemeinschaftsrechtliche Niederlassungsfreiheit nicht zusteht.

bb) Im Ergebnis dasselbe gilt im Hinblick auf die durch Art. 56 Abs. 1 (bis 30. April 1999: Art. 73b) EGV garantierte Freiheit des Kapitalverkehrs. Diese schließt zwar Beschränkungen des Kapitalverkehrs nicht nur im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten aus; vielmehr wird auch der Kapitalverkehr zwischen Mitgliedstaaten und dritten Staaten geschützt. Doch wird die hier in Rede stehende Dividendenbesteuerung selbst dann, wenn sie dem Grunde nach die Freiheit des Kapitalverkehrs berührt, jedenfalls durch Art. 58 Abs. 1 Buchst. a (bis 30. April 1999: Art. 73d Abs. 1 Buchst. a) EGV gerechtfertigt.

aaa) Danach berührt Art. 56 Abs. 1 EGV nicht das Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort unterschiedlich behandeln. Diese Bestimmung ist im Streitfall einschlägig. Sie gilt zwar, soweit der Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten betroffen ist, nur im Hinblick auf die am 31. Dezember 1993 bestehenden steuerrechtlichen Vorschriften (Erklärung Nr. 7 zum Vertrag über die Europäische Union). Im Hinblick auf den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern besteht jedoch keine entsprechende zeitliche Begrenzung (Glaesner in Schwarze, EU-Kommentar, Art. 58 EGV Rz. 2; Ress/Ukrow in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 58 EGV Rz. 11). Mithin ist die genannte Regelung auch auf das am 30. Dezember 1996 in Kraft getretene DBA-Russland anwendbar.

bbb) Im Streitfall wird zwar die Klägerin im Hinblick auf die Höhe der einzubehaltenden Kapitalertragsteuer ungünstiger behandelt als eine Person, die sich auf ein Doppelbesteuerungsabkommen mit einer weiter gehenden Begrenzung der Quellenbesteuerung berufen kann. Diese unterschiedliche Behandlung ist aber ausschließlich darin begründet, dass die Klägerin in Russland ansässig ist. Angesichts dessen wird nach dem klaren Wortlaut des Art. 58 EGV die hier in Rede stehende Besteuerung durch Art. 56 Abs. 1 EGV nicht ausgeschlossen.

Dieser Beurteilung steht das EuGH-Urteil vom 21. November 2002 C-436/00 "X und Y" (EuGHE 2002, 10829) nicht entgegen. Zwar hat der EuGH die dort überprüfte Vorschrift des schwedischen Steuerrechts nicht nur im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit, sondern auch wegen eines Verstoßes gegen die Freiheit des Kapitalverkehrs verworfen (Tz. 66 ff. des Urteils). Doch ging es in jener Vorschrift darum, dass die Übertragung von Gesellschaftsanteilen an eine ausländische Gesellschaft oder an deren Tochtergesellschaft steuerlich ungünstiger behandelt wurde als eine ansonsten vergleichbare Anteilsübertragung an eine inländische (schwedische) Gesellschaft. Eine derartige Regelung ist geeignet, eine willkürliche Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zu bewirken, die durch den in Art. 58 Abs. 1 Buchst. a EGV angeordneten steuerrechtlichen Vorbehalt nicht abgedeckt wird (Art. 58 Abs. 3 EGV; bis 30. April 1999: Art. 73d Abs. 3 EGV). Im Streitfall scheidet eine solche jedoch schon deshalb aus, weil die maßgebliche Bestimmung des DBA-Russland das Ergebnis einer gegenseitigen Vereinbarung zwischen den beteiligten Vertragsstaaten ist, in die deren jeweilige Interessen eingeflossen und zum Ausgleich gebracht worden sind. Dabei ist speziell die hier maßgebliche Formulierung in Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Russland augenscheinlich von der russischen Seite eingebracht worden, die als den maßgebenden Wert den Nennwert der Beteiligung betrachtet (vgl. hierzu Wagner in Debatin/ Wassermeyer, a.a.O., Art. 10 DBA-Russland Rz. 12). Vor diesem Hintergrund ist die Annahme, dass eine entsprechende Handhabung des DBA-Russland auf eine willkürliche Diskriminierung russischer Unternehmen oder auf eine verschleierte Beschränkung des Kapitalverkehrs mit Russland hinauslaufe, offensichtlich fernliegend. Damit wird die genannte Auslegung unter dem Gesichtspunkt des freien Kapitalverkehrs von Art. 58 Abs. 1 EGV abgedeckt. Einer Anrufung des EuGH bedarf es auch in diesem Zusammenhang nicht.

4. Im Ergebnis kann die Klägerin mithin für alle Streitjahre nur eine Begrenzung der Kapitalertragsteuer nach Maßgabe des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b DBA-Russland, also auf 15 v.H. der Ausschüttungsbeträge, beanspruchen. Die angefochtenen Bescheide, die dem entsprechen, sind deshalb inhaltlich zutreffend. Entgegen der Ansicht der Klägerin war das BfF auch nicht nach Treu und Glauben am Erlass dieser Bescheide gehindert.

a) Durch die streitbefangenen Bescheide wurden voraufgegangene Freistellungsbescheide geändert, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung standen. Die Änderungsbefugnis des BfF ergibt sich deshalb aus § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977. Die Änderung scheiterte auch nicht am Ablauf der Festsetzungsfristen (§ 164 Abs. 4 Satz 1 AO 1977), da diese bei Erlass der Änderungsbescheide für alle Streitjahre noch andauerten. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

b) Im Erlass der Freistellungsbescheide mit einer Begrenzung der Quellensteuern auf 5 v.H. kann entgegen der Ansicht der Klägerin keine verbindliche Zusage des Inhalts liegen, dass es bei dieser Sachbehandlung endgültig bleiben werde. Dem steht schon die Anordnung des Vorbehalts der Nachprüfung entgegen, aus der sich für die Klägerin erkennbar ergab, dass das BfF sich die Möglichkeit einer späteren Änderung der Bescheide offen halten wollte. Abgesehen davon fehlt es im Streitfall an allen Merkmalen einer verbindlichen Zusage, namentlich an einem entsprechenden Antrag der Klägerin und einer behördlichen Erklärung, die sich auf einen erst in Zukunft zu verwirklichenden Sachverhalt bezieht (vgl. hierzu Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 204 Rz. 23, m.w.N.).

c) Schließlich war bei Erlass der angefochtenen Bescheide der hier in Rede stehende Steueranspruch nicht verwirkt. Eine Verwirkung tritt nämlich nur dann ein, wenn die Finanzbehörde über längere Zeit untätig geblieben ist und die verspätete Rechtsausübung aufgrund besonderer Umstände als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint (Senatsurteil vom 24. April 2002 I R 25/01, BFHE 198, 303, BStBl II 2002, 586, 589, m.w.N.). Ein solcher Sachverhalt liegt entgegen der Ansicht der Klägerin im Streitfall nicht schon deshalb vor, weil das BfF die ursprünglichen Feststellungsbescheide ohne Veranlassung seitens der Klägerin zu deren Gunsten geändert und dazu auf eine Änderung des DBA-Russland hingewiesen hatte. Daraus mag zwar abzuleiten sein, dass das BfF im Vorfeld jener Maßnahme die Sach- und Rechtslage überprüft hatte. Auch insoweit muss jedoch die Erwägung durchgreifen, dass es sich durch die Anordnung des Vorbehalts der Nachprüfung eine erneute Überprüfung vorbehalten hatte und dass dies für die Klägerin erkennbar war. Wenn es später von dieser erklärtermaßen vorbehaltenen Prüfungsmöglichkeit Gebrauch gemacht hat, stellt dies keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar (vgl. hierzu auch Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 28. August 2002 V B 71/02, BFH/NV 2003, 4, m.w.N.). Die Klägerin genießt mithin im Ergebnis keinen Vertrauensschutz.

Hierfür kommt es nicht darauf an, ob der Klägerin durch das Vorgehen des BfF ein Schaden entstanden ist. Diese Frage hat das FG deshalb zu Recht offen gelassen. Falls das Vorgehen des BfF für die Klägerin ―wie diese vorträgt― zum Verlust von Steueranrechnungsmöglichkeiten in Russland geführt haben sollte, könnte dies allenfalls Anlass für eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 oder nach § 227 AO 1977 sein. Darüber kann aber im Steuerfestsetzungsverfahren (Klein/Rüsken, a.a.O., § 163 Rz. 2, m.w.N.) und damit auch im Freistellungsverfahren nicht befunden werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1208292

BFH/NV 2004, 1444

BStBl II 2004, 767

BFHE 2005, 332

BFHE 206, 332

BB 2004, 1950

DStRE 2004, 1293

DStZ 2004, 624

HFR 2004, 1079

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