Entscheidungsstichwort (Thema)

Neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO; Bindung an Tatsachenfeststellungen; mangelnde Sachaufklärung

 

Leitsatz (NV)

1. Eine Änderung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO kommt nicht in Frage, wenn das FA bei gehöriger Erfüllung seiner Ermittlungspflicht die Tatsache beim Erlaß des Steuerbescheids hätte kennen müssen; dies gilt nicht, wenn es der Stpfl. unterlassen hat, das FA auf eine nicht ohne weiteres zu erkennende Tatsache hinzuweisen, und wenn dem Stpfl. die steuerliche Bedeutsamkeit der Tatsache bekannt war.

2. Zu Verstößen gegen Denkgesetze und Erfahrungssätzen bei Schätzungen.

3. Mangelnde Sachaufklärung ist anzunehmen, wenn sich dem FG die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen hätte aufdrängen müssen.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; FGO § 76 Abs. 1, § 118 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf

 

Tatbestand

Der am . . . 1977 verstorbene X wurde von seiner Ehefrau, der Klägerin und Revisionsklägerin zu 1 (Klägerin zu 1), und seinen Kindern, den Klägern und Revisionsklägern zu 2 bis 4 (Kläger zu 2 bis 4), beerbt.

X betrieb in den Streitjahren 1964 bis 1966 eine Tankstelle. Nach einem vorläufigen Haftungsbescheid des Hauptzollamts (HZA) vom 7. Juli 1967 haftete X für hinterzogene Mineralölsteuern in Höhe von . . . DM; er hatte in den Jahren 1964 bis 1966 280 000 l Mineralöl für 0,20 DM pro Liter bezogen und ohne Rechnung weiterveräußert. X ermittelte den Umsatz für die verkaufte Ware, indem er als Preis 0,40 DM pro Liter ansetzte; dies ergab für die Streitjahre ein Umsatzmehr von 112 000 DM (0,40 DM x 280 000 l), das er in Höhe von 37 400 DM dem Umsatz des Jahres 1965 und in Höhe von 37 200 DM dem Umsatz des Jahres 1966 zurechnete. Als Gewinne aus dem Verkauf der 280 000 l Mineralöl setzte X für alle Jahre 56 000 DM (Umsatz 112 000 DM abzüglich des Einkaufspreises in Höhe von 56 000 DM - 0,20 DM x 280 000 l -) an; davon berücksichtigte er 18 700 DM für das Jahr 1965 und 18 600 DM für das Jahr 1966. Entsprechend erhöhte X bei der Abgabe der Steuererklärungen für die Streitjahre 1965 und 1966 die Umsätze, Gewinne und Gewerbeerträge dieser Jahre. Nach einer Betriebsprüfung änderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Veranlagungen des Streitjahres 1964 in der Weise, daß er hinsichtlich des Verkaufs der 280 000 l Mineralöl dem Umsatz 37 400 DM sowie dem Gewinn und Gewerbeertrag je 18 700 DM hinzurechnete. Ferner wurden die Bescheide der Streitjahre aus anderen Gründen berichtigt. Alle Änderungsveranlagungen der Streitjahre wurden endgültig durchgeführt und bestandskräftig.

Am 12. Februar 1971 erließ das HZA gegen X einen neuen Haftungsbescheid, in dem es u. a. hieß:

,,Nach Feststellungen der Zollfahndungsstelle . . . und dem auf Ihrem Geständnis beruhenden Urteil des erweiterten Schöffengerichts . . . haben Sie in der Zeit von 1964 bis 1966 mindestens etwa 700 000 Ltr. gestohlenes oder unterschlagenes Mineralöl (Gasöl) von verschiedenen Personen angekauft und den größten Teil davon als Dieselkraftstoff weiterverkauft."

Das FA erließ daraufhin für die Streitjahre gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) geänderte Umsatzsteuer- und Einkommensteuerbescheide sowie gemäß § 35 b des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) geänderte Gewerbesteuermeßbescheide. Entsprechend der von X in den Steuererklärungen 1965 und 1966 und von der Betriebsprüfung für das Jahr 1964 vorgenommenen Umsatz- und Gewinnermittlung (Ankauf des Mineralöls für 0,20 DM je Liter und Verkauf für 0,40 DM je Liter) erhöhte das FA die Umsätze um 56 000 DM je Jahr (420 000 l x 0,40 DM) sowie die Gewinne und Gewerbeerträge um je 28 000 DM je Jahr (420 000 l x 0,20 DM). Die Einsprüche hatten keinen Erfolg.

Hiergegen erhob X Klage, hinsichtlich der Einkommensteuerbescheide auch die mit ihm zusammenveranlagte Klägerin zu 1. Nach seinem Tod wurde das Verfahren von den Klägern fortgeführt.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit folgender Begründung ab:

Die Änderungsbescheide seien zu Recht ergangen. Die Voraussetzungen zur Änderung der Steuerbescheide nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und § 35 b GewStG hätten vorgelegen. Eine Bindung des FA an die geänderten Bescheide könne nicht damit begründet werden, daß es diese Bescheide endgültig und nicht vorläufig durchgeführt habe (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 11. Juli 1978 VIII R 120/75, BFHE 125, 488, BStBl II 1979, 57). Die Kläger könnten ferner keinen Erfolg mit ihrem Einwand haben, nur ein Teil der fraglichen Mineralölmenge sei als Dieselkraftstoff mit einem Preis von 0,40 DM je Liter verkauft worden. Sie hätten nicht substantiiert vorgetragen, für welche Teilmenge niedrigere Preise anzusetzen seien; es sei deshalb gerechtfertigt, von denselben Einkaufs- und Verkaufspreisen auszugehen, wie sie der steuerliche Berater des X den Steuererklärungen 1965 und 1966 zugrunde gelegt habe.

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Das FG habe seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 76 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), nicht beachtet. Es habe nämlich die Zahlen des Haftungsbescheids des HZA übernommen, ohne zu erforschen, ob X 700 000 l Mineralöl schwarz erworben habe. Auch habe das FG nicht durch eigene Ermittlungen festgestellt, welche Menge nicht als Dieselkraftstoff, sondern als billiges Heizöl verkauft worden sei.

Die Tatsache, daß die nichterfaßte Mineralölmenge nicht 280 000 l, sondern 700 000 l betrage, sei dem FA nicht neu i. S. des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gewesen. Das FA hätte bei Erfüllung seiner Ermittlungspflicht die tatsächliche Mineralölmenge feststellen können. Auch könne die Übernahme der Schätzung durch das HZA nicht als neue Tatsache i. S. des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gewertet werden. Das FA habe den Anspruch auf Änderung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO verwirkt, weil es die geänderten Bescheide endgültig und nicht vorläufig durchgeführt habe.

Der Gewinn aus dem Verkauf der buchmäßig nicht erfaßten Mineralölmenge sei unzutreffend ermittelt und auf die Streitjahre verteilt worden. Insbesondere hätte das FG hinsichtlich der Gewinnerhöhungen Rückstellungen für die Betriebsteuern (Umsatzsteuer, Gewerbesteuer, Mineralölsteuer) berücksichtigen müssen.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die berichtigten Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1964 bis 1966 vom 29. September 1971 sowie den berichtigten Gewerbesteuermeßbescheid für die Jahre 1964 bis 1966 vom 1. Dezember 1971 - sämtliche in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18. Juni 1974 - abzuändern und die Einkommensteuer für 1964 auf . . ., für 1965 auf . . . sowie für 1966 auf . . ., die Umsatzsteuer für 1964 auf . . ., für 1965 auf . . . sowie für 1966 auf . . ., den Gewerbesteuermeßbetrag für 1964 auf . . ., für 1965 auf . . . sowie für 1966 auf . . . festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das FG hinsichtlich der Einkommensteuern und der Gewerbesteuermeßbeträge der Streitjahre 1964 bis 1966. Im übrigen ist die Revision unbegründet.

1. Das FG hat zutreffend entschieden, daß das FA die strittigen Umsatz- und Einkommensteuerbescheide nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern konnte. Es hat für den Senat bindend festgestellt, daß X in den Streitjahren nicht nur 280 000 l Mineralöl, sondern noch weitere 420 000 l auf buchmäßig nicht erfaßte Weise erworben und verkauft hat. Der Mehrerwerb in Höhe von 420 000 l war für das FA eine neue Tatsache, denn sie ist ihm erst nach Erlaß der geänderten Bescheide bekanntgeworden. Eine Änderung von Steuerbescheiden kommt allerdings nicht in Betracht, wenn das FA bei gehöriger Erfüllung der ihm obliegenden Ermittlungspflicht die Tatsache beim Erlaß der Steuerbescheide hätte kennen müssen (BFH-Urteil vom 23. August 1963 III 56/62 U, BFHE 77, 542, BStBl III 1963, 518). Unterläßt der Steuerpflichtige es jedoch, das FA auf eine nicht ohne weiteres erkennbare Tatsache hinzuweisen, obwohl ihm ihre steuerliche Bedeutsamkeit bekannt ist, kann er sich bei einer späteren Änderungsveranlagung nicht auf eine mangelhafte Aufklärung durch das FA berufen (BFH-Urteil vom 19. Oktober 1971 VIII R 27/66, BFHE 103, 404, BStBl II 1972, 106). Dies gilt insbesondere, wenn ein Steuerpflichtiger Ware ein- und verkauft, ohne die daraus erzielten Umsätze und Gewinne in seinen Steuererklärungen anzugeben. Danach lagen im Streitfall die Voraussetzungen zur Änderung der strittigen Steuerbescheide nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO vor. Der demgegenüber von den Klägern erhobene Einwand, daß die ,,Übernahme der Schätzung durch das HZA keine neue Tatsache" i. S. des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO sei, kann schon deshalb zu keinem anderen Ergebnis führen, weil nach den Feststellungen des FG die Ermittlung der fraglichen Mineralölmenge nicht auf einer Schätzung, sondern auf dem Eingeständnis des X beruht, in den Streitjahren 700 000 l Mineralöl im Wege des Schwarzhandels erworben und verkauft zu haben.

Dem FG ist auch darin zu folgen, daß der Änderung der strittigen Steuerbescheide nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht entgegensteht, daß das FA diese Bescheide für endgültig und nicht für vorläufig erklärt hat. Aus dem Ergehen eines endgültigen Bescheids kann nicht geschlossen werden, das FA werde später bekanntwerdende Tatsachen nicht verwerten (Urteil in BFHE 125, 488, BStBl II 1979, 57).

Da somit das FA die Einkommensteuerbescheide nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern konnte, waren auch die Voraussetzungen zur Änderung der Gewerbesteuermeßbetragsbescheide nach § 35 b GewStG gegeben.

2. Die Revision kann mit Erfolg auch nicht darauf gestützt werden, daß bei der Ermittlung des Gewinns noch Gewinnminderungen - mit Ausnahme der betrieblichen Steuern (s. hierzu unter 4.) - hätten berücksichtigt werden müssen, und daß die Mehrumsätze und Mehrgewinne nicht gleichmäßig auf alle drei Streitjahre verteilt worden seien. Entgegen der Auffassung der Kläger verstoßen die insoweit vom FG getroffenen Entscheidungen nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze. Ein Denkfehler kann nur angenommen werden, wenn die vom FG gezogenen Schlußfolgerungen zwingend falsch sind. Dies ist in der Streitsache nicht der Fall. Das FA konnte von dem Abzug weiterer Betriebsausgaben - mit Ausnahme der Betriebsteuern (s. hierzu unter 4.) - absehen, weil es durchaus möglich ist, daß die von den Klägern geltend gemachten Aufwendungen bereits in den von diesen selbst ermittelten Betriebsergebnissen berücksichtigt sind; diese Annahme lag um so näher, als die Kläger selbst nicht substantiiert vorgetragen haben, welche weiteren Kosten entstanden sind. Ebenso muß die Entscheidung des FG, die Mehrgewinne und Mehrumsätze durch Schätzung gleichmäßig auf alle drei Jahre zu verteilen, als im Rahmen der Denkgesetze möglich angesehen werden. Auch besteht kein Erfahrungssatz des Inhalts, daß der Umfang von über einen Zeitraum von drei Jahren betriebenen Schwarzhandelsgeschäften im ersten Jahr geringer als in den folgenden Jahren ist. Dies gilt um so mehr, als die vom FG vorgenommene Aufteilung der von X selbst in den Streitjahren 1965 und 1966 gewählten Verteilungsmethode entspricht.

Soweit die Kläger geltend machen, daß ein Teil des buchmäßig nicht erfaßten Mineralöls zu einem Preis von unter 0,40 DM pro Liter verkauft worden sei, kann dies revisionsrechtlich nicht zum Erfolg führen. Denn das FG ist aufgrund seiner tatsächlichen Feststellungen zu dem Ergebnis gelangt, daß dies nicht der Fall gewesen sei. Hieran ist der Senat nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden.

3. Die von den Klägern erhobene Rüge mangelnder Sachaufklärung hinsichtlich der Feststellungen des FG, in welcher Menge X Mineralöl schwarz bezogen hat und zu welchem Preis es verkauft worden ist, ist nicht begründet. Die Verfahrensrüge nicht ausreichender Sachverhaltsermittlungen greift nur durch, wenn sich die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen in Anbetracht des gesamten Sachverhalts hätte aufdrängen müssen (BFH-Urteil vom 3. November 1976 II R 43/67, BFHE 120, 549, BStBl II 1977, 159; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 76 FGO Rdnr. 7). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht gegeben. Da X eingestanden hat, den Erwerb und Verkauf von insgesamt 700 000 l Mineralöl buchmäßig nicht erfaßt zu haben und er und die Kläger auch keinerlei substantiierte Angaben gemacht haben, welche Menge auf diese Weise bezogen worden ist, brauchte das FG keine weiteren Nachforschungen anzustellen. Entsprechendes gilt angesichts der von X für die Jahre 1965 und 1966 abgegebenen Erklärungen und des Fehlens eines hiervon abweichenden Sachvortrags auch für die Feststellungen des FG hinsichtlich des Verkaufspreises der 700 000 l Mineralöl.

4. Begründet ist jedoch der Einwand der Kläger, daß das FG nicht geprüft hat, ob und inwieweit die Gewinne und Gewerbeerträge der Streitjahre um die auf die strittigen Mehrgewinne und Mehrgewerbeerträge entfallenden Betriebsteuern durch Bildung von Rückstellungen zu mindern sind. Die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, um dies entscheiden zu können. Da der BFH nach § 118 Abs. 2 FGO nicht befugt ist, die erforderlichen Ermittlungen selbst anzustellen, war die Zurückverweisung der Einkommensteuer- und Gewerbesteuermeßbetragssachen der Streitjahre 1964 bis 1966 geboten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413884

BFH/NV 1986, 7

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