Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Verhältnis Grundlagen-/Folgebescheid

 

Leitsatz (NV)

1. Rechtswirksame Bekanntgabe des Grundlagenbescheids ist Voraussetzung für die in § 182 Abs. 1 AO 1977 angeordnete Bindungswirkung und ist daher auch im Folgeverfahren zu prüfen.

2. Die Frage, ob § 183 Abs. 2 AO 1977 eingreift, weil der zuständigen Finanzbehörde bekannt war, daß die vom Feststellungs bescheid betroffene Gesellschaft/Gemeinschaft nicht mehr besteht, unterliegt grundsätzlich der uneingeschränkten Sachaufklärungspflicht des Gerichts.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 118-119, 122, 124, 179ff, 182 Abs. 1, § 183; FGO §§ 76, 96

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG

 

Tatbestand

Vor dem Finanzgericht (FG) stritten die Kläger und Revisionskläger (Kläger) -- Ehegatten, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden -- mit dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Wohnsitzfinanzamt -- FA I --) u. a. um den zutreffenden Ansatz von Beteiligungsverlusten in auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Einkommensteuer-Änderungsbescheiden für 1974 bis 1977.

Dabei ging es u. a. um die (negativen) Einkünfte, die dem Kläger in den Streitjahren aus seiner Beteiligung als Kommanditist an den KG's "S. I und S. II" in ... zuzurechnen waren.

Nach den Feststellungen des FG waren die KG's zum 1. Januar 1982 in eine AG umgewandelt und die den angefochtenen Einkommensteuer-Bescheiden zugrundeliegenden Feststellungsbescheide vom zuständigen Betriebsfinanzamt (FA II) "im Mai 1982" bekanntgegeben worden. Das FA II soll dann erst mit Schreiben vom 25. Oktober 1982 durch die "bisherigen Vertreter der Gesellschaften" Kenntnis von der Umwandlung erhalten haben.

Letzteres hatten die Kläger -- soweit ersichtlich -- von Anfang an, zuletzt im Schriftsatz vom 13. Juli 1994, bestritten und geltend gemacht, die Feststellungsbescheide seien (nach § 183 Abs. 2 AO 1977) nicht wirksam zugestellt worden, denn schon bei ihrer Absendung sei dem FA II bekannt gewesen, daß die KG's nicht mehr bestanden hätten. Hierfür sprächen folgende Umstände:

-- Die Umwandlungsabsicht sei den Gesellschaftern schon 1980 mitgeteilt worden.

-- Der Umwandlungsbeschluß datiere vom Herbst 1981.

-- Zwischen dem FA II und den Vertretern der Beteiligungsgesellschaften -- insgesamt zehn an der Zahl, mit einem (stillen) Gesellschafterkapital von ca. 500 Mio. DM -- habe ständig Kontakt bestanden.

-- Vor allem aber sei den Feststellungsbescheiden für 1974 bis 1978 eine Betriebsprüfung vorausgegangen, die bis Anfang 1982 gedauert habe. Zum Beweis hierfür hatten die Kläger Beiziehung der Steuer- und Betriebsprüfungsakten sowie Vernehmung des Betriebsprüfers beantragt.

Sein klageabweisendes Urteil begründete das FG in diesem Punkt damit, es sehe sich "auf Grund der schlichten Vermutung der Kl.", dem FA II sei die Umwandlung schon im Mai 1983 bekannt gewesen, "nicht veranlaßt, weiter zu ermitteln. Daß die Vertreter der Gesellschaften sich noch im Oktober 1983 veranlaßt sahen, dem FA ... die Umwandlung bekanntzugeben, rechtfertigt den Schluß, daß dies notwendig war." Abgesehen davon komme es für die Anwendung des § 183 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 seinem Zweck entsprechend nicht entscheidend auf die Beendigung der rechtlichen Existenz, sondern darauf an, ob der Informationsfluß noch gewährleistet sei oder nicht. Dafür aber sei hier -- wie in Umwandlungsfällen regelmäßig -- nichts ersichtlich.

Außerdem verwies das FG in diesem Zusammenhang noch auf ein Urteil, betreffend die Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuer-Bescheide 1974 bis 1977. Darin heißt es, angesichts der Tatsache, daß die bisherigen Vertreter der umgewandelten KG's den Umwandlungsvorgang erst im Oktober 1982 mitgeteilt hätten, reiche die "reine Vermutung" der Kläger, das FA II habe von der Umwandlung schon bei Erlaß der streitbefangenen Bescheide gewußt, nicht aus, um das Klagebegehren zu rechtfertigen.

Mit der Revision rügen die Kläger Verfahrensmängel: Zu Unrecht sei das FG -- ohne die Kläger vorher hierzu zu hören -- davon ausgegangen, der Informationsfluß sei nicht gestört gewesen. Außerdem habe das FG seine Ermittlungspflicht dadurch verletzt, daß es die Beweisanträge nicht beachtet habe. Andernfalls wäre es zu einem anderen, für die Kläger positiven Ergebnis gekommen.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Das FA I beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Von der Gelegenheit zur Revisionserwiderung hat es keinen Gebrauch gemacht.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Das Urteil verletzt im Umfang des Revisionsbegehrens Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Es beruht auf den gerügten Verfahrensmängeln (§ 118 Abs. 3 Satz 1 FGO; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl. 1993, § 118 Rz. 53, m. w. N.).

1. Von der rechtswirksamen Bekanntgabe der den angefochtenen Einkommensteuer- Bescheiden zugrundeliegenden Feststellungsbescheide hing deren Verbindlichkeit für die zwischen den Beteiligten streitigen Beteiligungseinkünfte ab (§§ 179 ff., § 182 Abs. 1 AO 1977). Die Entscheidung dieser Frage fiel daher -- ungeachtet der §§ 42 FGO, 351 Abs. 2 AO 1977 -- in die Prüfungskompetenz des FG (vgl. die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 25. März 1986 III B 6/85, BFHE 146, 225, BStBl II 1986, 477; vom 15. April 1988 III R 26/85, BFHE 153, 98, BStBl II 1988, 660, und vom 2. September 1987 I R 110/86, BFH/NV 1988, 176; s. auch Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 182 AO 1977 Rz. 9).

2. Ob die Feststellungsbescheide im Mai 1982 wirksam (s. auch § 122, § 124 Abs. 1 Satz 1, § 155 Abs. 1 Satz 2, und § 181 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 179 Abs. 1 und Abs. 2 AO 1977) noch nach § 183 Abs. 1 AO 1977 einem gemeinsamen Empfangsbevollmächtigten oder einem Vertretungsberechtigten der Gesellschaften gegenüber bekanntgegeben werden konnten oder ob Einzelbekanntgabe erforderlich war, richtet sich gemäß § 183 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 im Streitfall danach, ob dem FA II zum Erlaßzeitpunkt bekannt war, daß die KG's (infolge der Umwandlung) nicht mehr bestanden.

3. Hiervon hätte das FG sich, gestützt auf das Gesamtergebnis des Verfahrens, d. h. eines grundsätzlich vollständig aufgeklärten Sachverhalts, eine eigene Überzeugung bilden müssen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 76 Abs. 1 FGO; s. dazu Gräber, a.a.O., § 76 Rz. 11 ff. und § 96 Rz. 8 ff., nebst den dortigen Nachweisen). Das ist nicht geschehen.

a) Das FG hat seine Sachaufklärungspflicht verletzt, weil es nicht alles objektiv Mögliche und ihm Zumutbare unternommen hat, um die zur Beurteilung der Wirksamkeit der Grundlagenbescheide (und der entscheidend hiervon abhängigen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Folgebescheide) im Streitfall erforderlichen Tatsachen mit dem erforderlichen Grad der Gewißheit (s. dazu Gräber, a.a.O., § 96 Rz. 15, m. w. N.) festzustellen.

aa) Die für die Rechtsgeltung der Grundlagenbescheide unerläßliche Entscheidung über ihre wirksame Bekanntgabe setzte im Streitfall nach den vom FG selbst festgestellten Tatsachen eine eigene Überzeugungsbildung über den Fortbestand der KGs voraus (zu deren Vollbeendigung im Fall einer solchen Umwandlung nach damals geltendem Recht vgl. BFH-Urteile vom 26. Oktober 1989 IV R 23/89, BFHE 159, 15, BStBl II 1990, 333; vom 10. November 1988 IV R 15/86, BFH/NV 1989, 499, 500, und vom 8. Oktober 1991 VIII R 85/88, BFH/NV 1992, 324; s. auch Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 48 FGO Rz. 69 ff., m. w. N.).

bb) Die Sachaufklärungspflicht des FG (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) war auch nicht eingeschränkt. Dabei läßt der Senat dahingestellt, ob er der Ansicht Söhns in Hübsch mann/Hepp/Spitaler (a.a.O., § 182 AO 1977 Rz. 65) folgen könnte, wonach im Rahmen des § 183 Abs. 2 AO 1977 die Feststellungsbeteiligten eine besondere "Informationslast" treffe; denn die Kläger waren im Streitfall sogar über ihre allgemeinen prozessualen Mitwirkungspflichten (dazu Gräber, a.a.O., § 76 Rz. 25 ff., § 96 Rz. 9 ff.) hinausgegangen und hatten konkrete Tatsachen benannt (nicht wie das FG meint, hierzu nur eine "schlichte Vermutung" geäußert), die den Schluß rechtfertigen, daß das FA II von der Vollbeendigung der KG's im Mai 1982 positiv Kenntnis hatte, und dies auch noch mit Beweisanträgen untermauert. Dem hätte das FG nachgehen müssen (s. dazu Gräber, a.a.O., § 76 Rz. 10, 17 ff., 24). Statt dessen hat es sich selbst mit Vermutungen zum Kenntnisstand des FA II und zum Informationsfluß in Umwandlungsfällen begnügt und insofern eine Beweiswürdigung unzulässigerweise vorweggenommen (s. Gräber, a.a.O., Rz. 26).

b) Auf die Frage des Informationsflusses kommt es im übrigen in Fällen der Beendigung einer Gesellschaft oder Gemeinschaft nicht an (a. M. offenbar Tipke/Kruse, Ab gabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 183 AO 1977 Tz. 14). Entscheidend ist vielmehr, vor allem auch im Interesse ungeschmälerter Rechtsschutzmöglichkeiten des einzelnen (vgl. Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl. 1996, § 183 Tz. 5), daß mit der Beendigung der Gesellschaft der rechtfertigende Grund für eine Ausnahme von der allgemeinen Bekanntgaberegel (§ 122 Abs. 1 Satz 1, § 124 und § 179 Abs. 2 Satz 2 AO 1977) entfällt und die weitere Handhabung der Vereinfachungsregelung des § 183 Abs. 1 AO 1977 über diesen Zeitpunkt hinaus, nur aus Praktikabilitätsgründen vom Kenntnisstand der zuständigen Finanzbehörde abhängt. Für eine weitere Ausdehnung gibt es keine Rechtfertigung (s. auch BFH-Beschluß vom 12. Januar 1995 VIII B 43/94, BFH/NV 1995, 759; zum Parallelproblem bei § 352 AO 1977 bzw. § 48 FGO, vgl. auch BFH-Entscheidungen in BFHE 159, 15, BStBl II 1990, 333; in BFH/NV 1989, 499, 500, und vom 22. Mai 1995 VIII B 146/94, BFH/NV 1077, 1078; Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 48 FGO Rz. 69 ff., 71, m. w. N.).

4. Die fehlenden Ermittlungen wird das FG nunmehr im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben und dabei außerdem noch folgendes beachten müssen: Maßgeblich für den Regelungsgehalt und die Bindungswirkung der den angefochtenen Einkommensteuer- Bescheiden zugrundeliegenden Feststellungsbescheide sind nicht die behördeninternen (ESt-4-)Mitteilungen, sondern die Steuerverwaltungsakte selbst (BFH-Urteil vom 9. September 1988 III R 253/84, BFH/NV 1989, 138). Außerdem wird sich die Prüfung nicht auf die Einhaltung der Bekanntgabevorschriften beschränken dürfen, sondern auch auf die Frage der zutreffenden Bestimmung der Inhaltsadressaten (§§ 118 Satz 1, 119 Abs. 1, 157 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 179 Abs. 2 Sätze 1 und 2, sowie § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) erstrecken müssen (vgl. dazu u. a. BFH-Urteile vom 16. März 1993 XI R 42/90, BFH/NV 1994, 75; generell zum Bestimmtheitserfordernis: Tipke/Kruse, a.a.O., § 119 AO 1977 Tz. 2, § 155 AO 1977 Tz. 8 ff.; BFH-Urteile vom 17. Juni 1992 X R 47/88, BFHE 169, 103, BStBl II 1993, 174, und vom 13. Juli 1994 X R 7/91, BFH/NV 1995, 303, 305).

 

Fundstellen

Haufe-Index 422131

BFH/NV 1997, 734

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge