Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Handelsrecht Gesellschaftsrecht Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Buchführung ist nicht ordnungsmäßig, wenn die Inventurunterlagen verlorengegangen sind. Eine Buchführung ist aber als ordnungsmäßig anzuerkennen, wenn diese Unterlagen spätestens bis zum Abschluß des finanzgerichtlichen Verfahrens vorgelegt werden.

Zu den Anforderungen an ein ordnungsmäßiges Inventar.

 

Normenkette

EStG §§ 5, 10d; HGB § 38 Abs. 1, § 39; AO § 162 Abs. 8, § 171 Abs. 2, § 204 Abs. 1; FGO § 65 Abs. 1 S. 2, § 76/1, § 76/3

 

Tatbestand

Der 1957 verstorbene und von seiner Ehefrau, der Steuerpflichtigen - Stpfl. -, beerbte Ehemann war Alleininhaber einer im Handelsregister eingetragenen Fabrik. Bei der Betriebsprüfung im Jahr 1958 sah der Prüfer die Buchführung für die Jahre 1954 bis 1956 nicht als ordnungsmäßig an, weil die Stpfl. nicht die Originalaufzeichnungen der Inventuren per 31. Dezember 1954 und 31. Dezember 1955 vorlegen konnte. Vorhanden war jeweils nur ein Blatt mit Zusammenstellungen der Warengruppen, die überwiegend mit auf volle 1000 DM abgerundeten Beträgen angesetzt waren. Der Prüfer schlug vor, die Warenvorräte in Höhe der Bilanzansätze zu schätzen und der Stpfl. bei der Einkommensteuerveranlagung 1958 den Abzug der in den Jahren 1954 bis 1956 erlittenen betrieblichen Verluste gemäß § 10 d EStG zu versagen. Das Finanzamt (FA) folgte dem Vorschlag des Prüfers.

Die Stpfl. behauptet, ihr Ehemann, der damals im Vergleichsverfahren gewesen sei, habe die Inventuren ordnungsmäßig gemacht. Der Vergleichsverwalter habe die Inventare geprüft und zusammen mit den Bilanzen dem Gläubigerausschuß vorgelegt. Sie habe nach der Schlußbesprechung, aber noch vor den Berichtigungsveranlagungen dem FA angezeigt, daß sich die handschriftlichen Inventare zum 31. Dezember 1955 zum Teil, und zwar für Waren im Werte von 150 583 DM, angefunden hätten (Bilanzansatz zum 31. Dezember 1955: 159 650 DM).

Der Einspruch und die Berufung hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, gemäß den Urteilen des BFH I 169/55 U vom 6. Dezember 1955 (BStBl 1956 III S. 82, Slg. Bd. 62 S. 220) und IV 8/60 vom 6. Dezember 1963 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1964 S. 412 Nr. 373) sei eine Buchführung nicht ordnungsgemäß, wenn der Stpfl., die Inventuraufzeichnungen nicht dem Betriebsprüfer vorlegen könne. Fehlende Unterlagen könnten durch die Vernehmung von Personen, die bei der Bestandsaufnahme mitgewirkt hätten, nicht ersetzt werden. Der BFH sei mit dieser Rechtsprechung bewußt von seinem früheren Urteil I 42/54 vom 7. September 1954 (Der Betrieb 1955 S. 1175) abgerückt, das es für genügend erklärt hatte, daß ein zuverlässiger Steuerberater die fehlenden Unterlagen vorher geprüft und in Ordnung befunden hatte. Im Streitfall hätte der Vergleichsverwalter, der zugleich Steuerbevollmächtigter der Stpfl. war, sich als Zeuge auch nicht mehr daran erinnern können, ob ihm in allen Fällen die Originalaufnahmeblätter vorgelegen hätten. Bei dem Warenbestand zum 31. Dezember 1955 habe nicht geklärt werden können, warum die Zusammenstellung der einzelnen Warengruppen im Gegensatz zu der wiedergefundenen Originalzusammenstellung vielfach auf 1000 DM abgerundete Beträge enthalte. Es sei möglich, aber nicht sicher, daß der Ehemann die Zahlen auf volle Beträge abgerundet habe. Die Originalblätter seien vielleicht auch unvollständig, da sie zu einem anderen Warenendwert führten, als sie der Vergleichsverwalter und der Gläubigerausschuß festgestellt hätten. In ihnen seien zwei Positionen von 20 000 DM und 15 000 DM enthalten, die sich ebenfalls nicht aufklären ließen.

Mit der Revision rügt die Stpfl. die Verletzung des rechtlichen Gehörs und der amtlichen Ermittlungspflicht sowie unrichtige Anwendung bestehenden Rechts. Sie beantragt,

die Verluste der Jahre 1954 bis 1956 gemäß § 10 d EStG bei der Einkommensteuerveranlagung 1958 zu berücksichtigen.

Das FA hat keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führte zur Aufhebung der Vorentscheidung. Die Stpfl. kann gemäß § 10 d EStG den in den Jahren 1954 bis 1956 erlittenen Verlust ihres Ehemannes als Alleinerbin wie Sonderausgaben vom Gesamtbetrag ihrer Einkünfte abziehen, wenn der Verlust dieser Jahre auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt worden ist (BFH-Urteil VI 49/61 S vom 22. Juni 1962, BStBl 1962 III S. 386, Slg. Bd. 75 S. 328). Die Buchführung eines Kaufmanns ist ordnungsmäßig, wenn sie den Vorschriften des HGB und den allgemeinen Grundsätzen kaufmännischer Buchführung entspricht (BFH-Urteile IV 296/52 U vom 27. August 1953, BStBl 1953 III S. 357, Slg. Bd. 58 S. 170; IV 128, 129/64 vom 7. Mai 1965, HFR 1965, S. 487). Zu einer ordnungsgemäßen Buchführung gehört gemäß § 39 HGB eine Vermögensübersicht am Ende eines jeden Wirtschaftsjahres, der eine Aufnahme (Inventur) aller vorhandenen Wirtschaftsgüter zugrunde liegen muß. Fehlt eine solche Bestandsaufnahme, so ist die Buchführung im System fehlerhaft. Sie ist wegen dieses Systemfehlers selbst dann nicht als ordnungsgemäß anzuerkennen, wenn das FA ihre Ergebnisse übernimmt (BFH-Urteile IV 376/52 U vom 20. März 1953, BStBl 1953 III S. 120, Slg. Bd. 57 S. 300; IV 483/53 U vom 13. Mai 1954, BStBl 1954 III S. 213, Slg. Bd. 59 S. 10; I 169/55 U vom 6. Dezember 1955, a. a. O.; I 56/57 U vom 21. Mai 1957, BStBl 1957 III S. 237, Slg. Bd. 65 S. 11).

Im Einklang mit diesen Grundsätzen konnte das FG ohne Rechtsverstoß die Buchführung für die Jahre 1954 und 1955 als nicht ordnungsmäßig bezeichnen, weil die Stpfl. die Inventurunterlagen zum 31. Dezember 1954 nicht vorgelegt hat. Mag auch der verstorbene Ehemann die Bestände zum 31. Dezember 1954 körperlich haben aufnehmen lassen, so ist doch steuerlich entscheidend, ob das FA das Inventar auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit prüfen kann. Die Steuerpflichtigen müssen für die Streitjahre nach § 162 Abs. 8 und 171 Abs. 2 AO ihre Bücher, Inventare und Bilanzen zehn Jahre lang aufbewahren und auf Verlangen dem FA vorlegen. Wenn die Unterlagen innerhalb dieses Zeitraums verlorengingen, so wurde die Buchführung dadurch ordnungswidrig, ohne daß es darauf ankam, aus welchen Gründen die Unterlagen verlorengegangen waren, besonders ob den Stpfl. daran ein Verschulden traf (BFH-Urteile I 169/55 U, a. a. O.; IV 8/60, a. a. O.; IV 275/60 vom 12. November 1964, HFR 1966 S. 30).

Da das Gesetz dem FA in § 162 Abs. 10 und 11 AO n. F. das Recht und die Pflicht auferlegt, die Aufzeichnungen, Bücher und Geschäftspapiere selbst zu prüfen, kann ein fehlendes Inventar nicht durch die Aussage von Zeugen, auch nicht eines zuverlässigen Steuerberaters oder Vergleichsverwalters, ersetzt werden, selbst wenn diese Personen das Inventar vorher geprüft haben. Soweit der BFH in dem amtlich nicht veröffentlichten Urteil I 42/54 (a. a. O.) etwas anderes ausgesprochen hatte, hat er diese Ansicht in den Urteilen I 169/55 U und IV 8/60 (a. a. O.) aufgegeben. Das FG hat daher seine amtliche Ermittlungspflicht nicht dadurch verletzt, daß es die früheren Mitglieder des Gläubigerausschusses nicht darüber gehört hat, ob das Inventar zum 31. Dezember 1954 früher vorhanden war. Es kann danach auch dahingestellt bleiben, ob es die Aussagen des Vergleichsverwalters insoweit richtig gewürdigt hat.

Die Buchführung für das Jahr 1956 will das FG offensichtlich als ordnungsmäßig anerkennen, auch wenn das Inventar erst nach Abschluß der Betriebsprüfung wiederaufgefunden worden ist. Dieser Ansicht ist zuzustimmen. Da der Betriebsprüfer nur ein Ermittlungsbeamter des FA ohne eigene Entscheidungsbefugnis ist, wie der Senat im Urteil VI 167/61 U vom 20. Juli 1962 (BStBl 1963 III S. 23, Slg. Bd. 76 S. 64) ausgeführt hat, ist es nicht entscheidend, ob das Inventar zum 31. Dezember 1955 als Teil der Buchführung dem Prüfer vorgelegt worden ist. Wird das Inventar nachher wieder aufgefunden, und bestehen - wie im Streitfall - gegen die Echtheit der Originalaufzeichnungen keine Bedenken, so kann die Stpfl. diese Unterlagen im Rahmen des Berichtigungs- und Einspruchsverfahrens dem FA oder im Rechtsmittelverfahren dem FG als Tatsacheninstanz vorlegen (vgl. § 270 Abs. 1 AO a. F. und für die Zeit ab 1. Januar 1966 den § 65 Abs. 1 Satz 2 FGO). Das FA und das FG müssen dann gemäß § 204 Abs. 1 AO sowie § 76 Abs. 1 und 3 FGO vor Erlaß ihrer Entscheidung diese Aufzeichnungen noch nachträglich auf ihrer Echtheit, Richtigkeit und Vollständigkeit hin untersuchen.

Die Rechtslage ist in diesen Fällen anders als bei Anträgen auf Ausfuhrhändler- und Ausfuhrvergütungen im Umsatzsteuerrecht. Im Gegensatz zu der Steuervergünstigung des Verlustabzuges nach § 10 d EStG muß der Steuerpflichtige den Anspruch auf Umsatzsteuervergütungen innerhalb einer Ausschlußfrist von zwölf Monaten nach Ablauf eines Kalenderjahres geltend machen (§§ 21, 26 UStG). Da dieser Anspruch erst entsteht, wenn der Ausfuhrnachweis erbracht ist (§§ 16 Abs. 2 Ziff. 4, 23 Abs. 2 Ziff. 5 UStG), müssen die erforderlichen Belege grundsätzlich schon zur Zeit der Antragstellung, spätestens jedoch zur Zeit der Bewilligung der Vergütung vorhanden sein (BFH-Urteil V 73/63 U vom 29. Juli 1965, BStBl 1965 III S. 628, Slg. Bd. 83 S. 356). Der BFH hat aber anerkannt, daß vorhandene, aber zur Zeit der Prüfung vorübergehend nicht greifbare Belege ein ausreichender Ausfuhrnachweis sein können, wenn diese Belege nachgereicht werden (BFH-Urteil V 24/53 U vom 25. September 1953, BStBl 1953 III S. 332, Slg. Bd. 58 S. 108; Hübschmann-Grabower-Beck-v. Wallis, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, § 16 Anm. 9 S. 25 Abs. 4).

Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, weil das FG es unterlassen hat, die Buchführung auf Grund der wiederaufgefundenen Originalaufzeichnungen zum 31. Dezember 1955 selbst zu prüfen oder durch einen Sachverständigen prüfen zu lassen. Ob diese Aufzeichnungen ein ordnungsmäßiges Inventar sind, richtet sich gemäß § 38 Abs. 1 HGB nach den allgemeinen kaufmännischen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung. Es müssen die Warenbestände vollständig erfaßt und bewertet sein und eine angemessene Kontrolle ermöglichen (BFH- Urteile I 169/55 U a. a. O.; I 120/63 vom 9. Februar 1966, HFR 1966 S. 246). Die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung geht nicht dadurch verloren, daß die aufgenommenen Gegenstände steuerlich unrichtig bewertet worden sind (BFH-Urteil I 198/54 U vom 2. August 1955, BStBl 1955 III S. 344, Slg. Bd. 61 S. 373). Eine Höherschätzung des Warenbestandes gegenüber der Handelsbilanz führt nicht ohne weiteres dazu, die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung zu verneinen und daran geknüpfte Steuervergünstigungen zu versagen (BFH-Urteil I 120/63, a. a. O.). Im übrigen sind an ein Inventar je nach Branche und Betriebsgröße unterschiedliche Anforderungen zu stellen (BFH-Urteil VI 248/64 vom 30. Juni 1965, HFR 1965 S. 537).

Im Streitfall ist wesentlich, ob die Abweichungen der Originalaufzeichnungen von der Zusammenstellung der Warengruppen auf die Unvollständigkeit der Aufnahmeblätter oder auf die spätere andere Bewertung oder Höherschätzung zurückzuführen sind und wie die zwei strittigen Positionen von 20 000 DM und 15 000 DM ermittelt worden sind. Diese Fragen können nur durch Einsichtnahme in die Bücher geklärt werden. Hierzu muß das FG auch die Betriebsangehörigen befragen, die den Warenbestand damals aufgenommen haben. Gewährleisten die Inventurunterlagen in angemessener Zeit und ohne übermäßigen Aufwand eine Kontrolle des Warenbestandes, so ist das Inventar und damit auch die Buchführung als ordnungsmäßig anzuerkennen.

Will das FG einen Sachverständigen bestellen, so kann es die OFD ersuchen, hierfür einen geeigneten Betriebsprüfer zu benennen. Dabei ist der Stpfl. Gelegenheit zu geben, gegen den von der OFD benannten Prüfer Einwände vorzubringen. Das FG muß dann nach pflichtgemäßen Ermessen entscheiden, ob es eine andere Person als Sachverständigen bestellen will (BFH-Urteile I 155/61 U vom 18. Dezember 1962, BStBl 1963 III S. 164, Slg. Bd. 76 S. 451; IV 128, 129/64, a. a. O.; VI 284/64, a. a. O., und VI 326/65 vom 18. Februar 1966, BStBl 1966 III S. 496).

 

Fundstellen

Haufe-Index 412063

BStBl III 1966, 487

BFHE 1966, 301

BFHE 86, 301

BB 1966, 971

DB 1966, 1217

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