Entscheidungsstichwort (Thema)

Ansatz der Gewerbesteuerrückstellung nach der sog. 9/10-Methode - Zeitpunkt der Auflösung der Gewerbesteuerrückstellung - Bindung an allgemeine Verwaltungsanweisungen

 

Leitsatz (amtlich)

Die Verwaltungsanweisung in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR führt aus Gründen der Rechtsanwendungsgleichheit zu einer Selbstbindung der Verwaltung dahin, daß Steuerpflichtige auch dann einen Rechtsanspruch auf Ansatz der Gewerbesteuerrückstellung nach der sog. 9/10-Methode haben, wenn exakte mathematische Berechnungen zu größeren Abweichungen führen (Anschluß an BFH-Urteil vom 12.April 1984 IV R 112/81, BFHE 141, 45, BStBl II 1984, 554).

 

Orientierungssatz

1. Die Gewerbesteuerrückstellung ist erfolgswirksam in demjenigen Wirtschaftsjahr aufzulösen, bei dessen Gewinnermittlung der Steuerpflichtige die Kenntnis vom Nichtbestehen der Steuerschuld in der betreffenden Höhe erstmals berücksichtigen kann (vgl. Literatur).

2. Allgemeine Verwaltungsanweisungen, die Schätzungen zum Inhalt haben, führen aus Gründen der Gleichbehandlung zu einer Selbstbindung der Verwaltung. Den Finanzbehörden ist es danach verwehrt, in Einzelfällen, die offensichtlich von der Verwaltungsanweisung gedeckt werden, deren Anwendung ohne triftige Gründe abzulehnen. Der Steuerpflichtige hat einen auch vor den Steuergerichten zu beachtenden Rechtsanspruch darauf, nach Maßgabe der allgemeinen Verwaltungsanweisungen besteuert zu werden, es sei denn, daß die Anwendung der allgemeinen Schätzungsrichtlinie im Einzelfall offensichtlich zu unzutreffenden Ergebnissen führt (vgl. BFH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

EStG § 5; EStR Abschn. 22 Abs. 2 S. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine KG. Sie erstellt eine von der Handelsbilanz abweichende Steuerbilanz. In ihrer Steuerbilanz zum 31.Dezember 1978 berechnete sie die Gewerbesteuerrückstellung nach der sog. 9/10-Methode entsprechend Abschn.22 Abs.2 Satz 2 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR 1978) mit 164 628 DM. Der gemeindliche Hebesatz für die Gewerbesteuer liegt im Streitfall bei ca. 400 v.H.

Im Rahmen einer bei der Klägerin durchgeführten Außenprüfung vertrat der Prüfer u.a. die Ansicht, die Gewerbesteuerrückstellung sei nach der sog. Divisionsmethode zu ermitteln, weil die sog. 9/10-Methode zu einem unzutreffenden Ergebnis führe. Der Prüfer berechnete unter Anwendung eines Divisors eine Gewerbesteuerrückstellung von 111 859,34 DM und ermittelte so einen Gewinn der Klägerin für das Streitjahr 1978 mit 3 323 231 DM.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) folgte der Rechtsauffassung des Prüfers und erließ am 28.Juli 1981 einen entsprechend geänderten Feststellungsbescheid 1978.

Nach erfolglosem Einspruch machte die Klägerin mit der Klage geltend, der Gewinn 1978 sei unter Berücksichtigung einer nach der sog. 9/10-Methode errechneten Gewerbesteuerrückstellung auf 3 281 507 DM herabzusetzen. Der Gewinnfeststellungsbescheid 1978 sei entsprechend zu ändern.

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, das FA habe die Gewerbesteuerrückstellung zutreffend berechnet.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des Art.3 des Grundgesetzes (GG).

Die Klägerin meint, sie habe aufgrund der Regelung in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR ein Wahlrecht, ob sie die Gewerbesteuerrückstellung exakt oder vereinfacht nach der sog. 9/10-Methode ansetzt. Die Formulierung in der Verwaltungsanweisung "kann angesetzt werden", die bezüglich der 9/10-Methode in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR verwendet werde, könnte unter Beachtung des Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung nur so verstanden werden, daß Steuerpflichtige in jedem Fall einen Rechtsanspruch darauf haben, nach Maßgabe der seit 1948 inhaltlich unverändert gebliebenen allgemeinen Verwaltungsrichtlinie besteuert zu werden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und der Einspruchsentscheidung vom 1.April 1982 den angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheid 1978 vom 28.Juli 1981 dahingehend abzuändern, daß der Gewinn von 3 323 231 DM um einen nach Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR berechneten Gewerbesteuerrückstellungsbetrag herabgesetzt wird.

Das FA beantragt die Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs.3 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).

Zu Recht beanstandet die Revision, daß das FA die Gewerbesteuerrückstellung zu niedrig angesetzt hat.

1. Nach handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung, die gemäß § 5 Abs.1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auch für die einkommensteuerrechtliche Gewinnermittlung maßgeblich sind, müssen Abschlußzahlungen an Gewerbesteuer, die sich auf der Grundlage des ermittelten Gewerbeertrags und Gewerbekapitals für ein Wirtschaftsjahr ergeben, durch Bildung oder Erhöhung einer Rückstellung für dieses Wirtschaftsjahr gewinnmindernd berücksichtigt werden. Dazu ist in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR bestimmt, "zur Errechnung der Rückstellung kann die Gewerbesteuer schätzungsweise mit neun Zehnteln des Betrages der Gewerbesteuer angesetzt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe ergeben würde".

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist anerkannt, daß allgemeine Verwaltungsanweisungen, die ―wie im Streitfall Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR― Schätzungen zum Inhalt haben, aus Gründen der Gleichbehandlung zu einer Selbstbindung der Verwaltung führen. Den Finanzbehörden ist es danach verwehrt, in Einzelfällen, die offensichtlich von der Verwaltungsanweisung gedeckt werden, deren Anwendung ohne triftige Gründe abzulehnen (z.B. BFH-Urteile vom 27.Oktober 1978 VI R 8/76, BFHE 126, 217, BStBl II 1979, 54; vom 30.Juli 1982 VI R 257/80, BFHE 136, 399, BStBl II 1982, 779). Der Steuerpflichtige hat einen auch vor den Steuergerichten zu beachtenden Rechtsanspruch darauf, nach Maßgabe der allgemeinen Verwaltungsanweisungen besteuert zu werden, es sei denn, daß die Anwendung der allgemeinen Schätzungsrichtlinie im Einzelfall offensichtlich zu unzutreffenden Ergebnissen führt (vgl. BFH-Urteil vom 7.Februar 1985 IV R 56/82, BFH/NV 1986, 664 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Der BFH hat allerdings in diesem Zusammenhang auch ausgesprochen, daß die Steuergerichte nur an Gesetz und Recht gebunden sind und deshalb allgemeine Verwaltungsanweisungen nicht in gleicher Weise wie Gesetze handhaben, insbesondere nach den dafür maßgeblichen Kriterien auslegen dürfen. Vielmehr können die Steuergerichte nur unterbinden, daß die Finanzverwaltung in Einzelfällen, "die offensichtlich von der Verwaltungsanweisung gedeckt werden", willkürlich, d.h. ohne zwingende Sachgründe, die Anwendung der Verwaltungsanweisung ablehnt.

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der IV.Senat in seinem Urteil vom 12.April 1984 IV R 112/81 (BFHE 141, 45, BStBl II 1984, 554) in einem mit der Streitsache grundsätzlich vergleichbaren Fall die Auffassung vertreten, daß dem Steuerpflichtigen auch dann nicht verwehrt werden könne, die Gewerbesteuerrückstellung nach Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR schätzungsweise zu berechnen (sog. 9/10-Methode), wenn exakte mathematische Berechnungen zu einem hiervon abweichenden Ergebnis führen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn es sich nur um "relativ geringfügige Differenzen" handle. Bei einer Differenz von 900 DM (Rückstellungsberechnung nach der sog. 9/10-Methode *= 12 700 DM, Berechnung unter Anwendung eines Divisors *= 11 800 DM) bejahte der Senat einen Rechtsanspruch des Steuerpflichtigen zur Rückstellungsberechnung nach der sog. 9/10-Methode, ohne allerdings den Begriff der "relativ geringfügigen Differenz" in diesem Zusammenhang näher zu definieren.

c) Im Anschluß an die bisherige Rechtsprechung des BFH (BFHE 141, 45, BStBl II 1984, 554) ist der erkennende Senat der Auffassung, daß der Steuerpflichtige auch dann einen Rechtsanspruch darauf hat, die Gewerbesteuerrückstellung nach Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR zu berechnen, wenn exakte mathematische Berechnungen zu größeren Abweichungen führen.

Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR hat eine Schätzung der Gewerbesteuerrückstellung zum Inhalt. Es handelt sich um eine allgemeine Verwaltungsanordnung im Bereich der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen. Diese Methode der Rückstellungsberechnung dient allein dem Steuerpflichtigen zur vereinfachten Ermittlung (Nachweis) der wahrscheinlichen Gewerbesteuerabschlußzahlung. Diese allgemeine Verwaltungsanweisung wurde erstmals in die EStR II/1948 und 1949 (vgl. Abschn.21 Abs.2 Satz 3 EStR II/1948 und 1949) aufgenommen und besteht seither unverändert fort (vgl. zuletzt Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR 1990). Die Finanzverwaltung hat an der Verwaltungsanweisung inhaltlich unverändert festgehalten, obwohl ihr bekannt ist, daß die sog. 9/10-Methode nur bei einem Hebesatz von 222 v.H. zu einem exakten Ergebnis führt, und daß diese Hebesatzgrenze von der Mehrzahl der Gemeinden im Bundesgebiet nicht nur unwesentlich überschritten wird. So entfielen schon im Jahr 1968 lediglich 3,9 v.H. der Gemeinden (931 von 24 062) in die Hebesatzgruppen unter 226 v.H. (vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Jahrgang 1970, S.401). Die Anzahl dieser Gemeinden verringerte sich in den Folgejahren fast kontinuierlich. Im Streitjahr 1978 hatten nur noch 0,55 v.H. der Gemeinden (47 von 8 508) einen Hebesatz unter 226 v.H. (vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Jahrgang 1980 - 19.20.3. "Streuung der Realsteuersätze"). Daß unter diesen Umständen bei höheren einheitlichen Gewerbesteuermeßbeträgen und Hebesätzen über 222 v.H. die unter Anwendung der Vereinfachungsregelung in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR ermittelte Gewerbesteuerrückstellung von der genauen Berechnung der Gewerbesteuerrückstellung unter Anwendung eines Divisors nicht selten erheblich abweicht, ist offensichtlich. In Kenntnis dieser Umstände hätte es der Finanzverwaltung freigestanden, die allgemeine Vereinfachungsregelung in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR im Laufe der Zeit dahin zu modifizieren, daß die Anwendbarkeit der sog. 9/10-Methode zur Berechnung der Gewerbesteuerrückstellung im Einzelfall nur noch bis zu einer bestimmten Höhe des gemeindlichen Hebesatzes zur Anwendung kommt und im übrigen die Rückstellungsberechnung nach der exakten mathematischen Berechnung unter Anwendung eines Divisors zu erfolgen hat. Gleichwohl hat es die Finanzverwaltung unterlassen diese naheliegende hebesatzabhängige Differenzierung zur Berechnung der Gewerbesteuerrückstellung nach den verschiedenen Methoden in ihrer Verwaltungsanweisung vorzunehmen. Bei dieser Ausgangslage kann es objektiv nicht zweifelhaft sein, daß auch die Fälle offensichtlich von der Verwaltungsanweisung in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR gedeckt werden, bei denen die unterschiedlichen Methoden der Rückstellungsberechnung zu größeren Abweichungen führen. Die Verwaltungsanweisung in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR führt deshalb aus Gründen der Rechtsanwendungsgleichheit zu einer Selbstbindung der Verwaltung dahin, daß jeder Steuerpflichtige, unabhängig von der Höhe seines einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags und der Höhe des jeweiligen gemeindlichen Hebesatzes, im Einzelfall die Gewerbesteuerrückstellung nach der sog. 9/10-Methode berechnen kann.

d) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall ergibt sich, daß die Klägerin einen Rechtsanspruch darauf hat, die Gewerbesteuerrückstellung nach Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR zu berechnen. Im Streitfall führt die sog. 9/10-Methode unstreitig zum Ausweis einer Gewerbesteuerrückstellung, die höher ist als die vom FA berücksichtigte Rückstellung. Die Berechnung des FA, mit der dargetan werden soll, daß die berücksichtigte Gewerbesteuerrückstellung ausreichend ist, beruht auf einer anderen Methode; sie kann deshalb keinen Ansatz rechtfertigen, der niedriger ist als der Betrag, der sich nach Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR mit Hilfe der sog. 9/10-Methode ergibt.

2. Der Einwand des FA, die Klägerin könne die Schätzungsrichtlinie in Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR deshalb nicht in Anspruch nehmen, weil deren Anwendung im Streitfall zu einem unzutreffenden Ergebnis führe, greift nicht durch. Denn die Gewerbesteuerrückstellung ist erfolgswirksam in demjenigen Wirtschaftsjahr aufzulösen, bei dessen Gewinnermittlung der Steuerpflichtige die Kenntnis vom Nichtbestehen der Steuerschuld in der betreffenden Höhe erstmals berücksichtigen kann (vgl. Herrmann/ Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 19.Aufl., § 5 EStG Rdnr.769). Die Bildung der Gewerbesteuerrückstellung nach der sog. 9/10-Methode führt somit letztlich nicht zu endgültigen Steuerausfällen, sondern allenfalls im Einzelfall zu einer Steuerstundung.

3. Die Vorentscheidung stimmt mit den aufgezeigten Grundsätzen nicht überein und ist aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Der für die Klägerin festgestellte Gewinn ist für 1978 um eine nach Abschn.22 Abs.2 Satz 2 EStR berechnete Gewerbesteuerrückstellung zu mindern und nach dem bisherigen Verteilungsschlüssel auf die Gesellschafter aufzuteilen.

Die Berechnung des verminderten Gewinns und seine Aufteilung wird dem FA übertragen (Art.3 § 4 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31.März 1978, BGBl I, 446, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Beschleunigung verwaltungsgerichtlicher und finanzgerichtlicher Verfahren vom 4.Juli 1985, BGBl I, 1274).

 

Fundstellen

Haufe-Index 63703

BFH/NV 1991, 63

BStBl II 1991, 752

BFHE 164, 422

BFHE 1992, 422

BB 1991, 1751

BB 1991, 1751-1752 (LT)

DB 1991, 1909-1910 (LT)

DStR 1991, 1179 (KT)

DStZ 1991, 599 (KT)

HFR 1991, 650 (LT)

StE 1991, 306 (K)

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