Leitsatz (amtlich)

1. Die Aufhebung eines Steuerbescheids wegen örtlicher Unzuständigkeit des FA setzt nach § 127 AO 1977 voraus, daß das FG die materielle Unrichtigkeit des Steuerbescheids feststellt; zu diesem Zweck muß es über die Höhe der geschuldeten Steuer befinden und dazu erforderlichenfalls eigene Ermittlungen anstellen. Das gilt auch, wenn die örtliche Unzuständigkeit für das Einspruchsverfahren gerügt und die Aufhebung der Einspruchsentscheidung beantragt wird.

2. Von eigenen Ermittlungen kann das FG nach seinem Ermessen nur unter den Voraussetzungen des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO absehen. Hat das FA bereits Ermittlungen zu einer strittigen Besteuerungsgrundlage angestellt, so entspricht es in der Regel einer sachgerechten Ermessensausübung, daß das FG die noch erforderlich scheinenden Ermittlungen selbst anstellt.

 

Normenkette

AO 1977 § 127; FGO § 100 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind als Eheleute zur Einkommensteuer 1977 zusammenveranlagt worden. Der klagende Ehemann ist als angestellter Krankenhausarzt tätig. Er will Aufwendungen für Fotoarbeiten als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend machen; der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) hat sie nicht zum Abzug zugelassen. Im Einspruchsverfahren beantragte er außerdem, für freiberufliche Einkünfte aus Gutachtertätigkeit die Tarifvergünstigung des § 34 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu gewähren.

Die Kläger wohnten ursprünglich im Bereich des beklagten FA. Dieses erließ den Einkommensteuerbescheid und wurde auch im Einspruchsverfahren tätig. Während des Einspruchsverfahrens zogen die Kläger in den Bereich des FA X um. Mit Zustimmung dieses FA setzte das beklagte FA das Einspruchsverfahren fort und erließ einen Einspruchsbescheid; darin wurde lediglich ein Teil der Ausgaben für die Fotoarbeiten als Werbungskosten anerkannt. Die Kläger erhoben Klage und beantragten, unter Änderung des Einkommensteuerbescheids und der Einspruchsentscheidung die Fotoaufwendungen in vollem Umfang als Werbungskosten zu berücksichtigen und für die Einkünfte aus der Gutachtertätigkeit den ermäßigten Steuersatz nach § 34 Abs. 4 EStG zu gewähren.

Das Finanzgericht (FG) hob daraufhin lediglich die Einspruchsentscheidung wegen örtlicher Unzuständigkeit des FA auf. Es führte aus, daß nach § 367 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) grundsätzlich das neue Wohnsitz-FA über den Einspruch hätte entscheiden müssen. Anderes gelte nach § 26 Satz 2 AO 1977 nur, wenn die Fortsetzung des Verfahrens beim bisher zuständigen FA unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens diene und die nunmehr zuständige Finanzbehörde dem zustimme. Letzteres sei geschehen. Die Fortführung des Verfahrens habe aber nicht den Interessen der Kläger entsprochen; das FA habe nämlich zu erkennen gegeben, daß es dem Einspruch nicht stattgeben werde. Ob das FA das Verfahren fortführe, stehe in seinem Ermessen. Es hätte deshalb eine Ermessensentscheidung treffen, sie begründen und vorab die Kläger hören müssen; all dies sei unterblieben. Zwar sei ein Verstoß gegen die örtliche Zuständigkeit nach § 127 AO 1977 unerheblich, wenn in der Sache keine andere Entscheidung ergehen könne; im Streitfall sei jedoch eine Ermessensentscheidung getroffen worden, für die diese Bestimmung nicht gelte. Mit seiner Entscheidung weiche das FG nicht vom Antrag der Kläger ab. Diese hätten eine Änderung des Steuerbescheids beantragt; das setze die Aufhebung der Einspruchsentscheidung voraus. Der erkennende Senat des FG habe bereits einen Vorbescheid erlassen und darin die gleiche Rechtsauffassung wie gegenwärtig vertreten. Das FA habe daraufhin mündliche Verhandlung beantragt, während die Kläger den Ausführungen des FG zugestimmt hätten. Darin liege eine Klageänderung; die Kläger würden nunmehr die Aufhebung der Einspruchsentscheidung begehren.

Mit seiner Revision rügt das FA fehlerhafte Anwendung von Vorschriften der AO 1977 und der Finanzgerichtsordnung (FGO).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Das FG hat sich in seinem Urteil auf die Aufhebung der Einspruchsentscheidung des FA beschränkt. Das setzt, wie der Senat in seinem Urteil vom 19. August 1982 IV R 185/80 (BFHE 136, 445, BStBl II 1983, 21) dargelegt hat, einen entsprechenden Antrag der Kläger voraus, sofern nicht ausnahmsweise die Voraussetzungen des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO gegeben sind.

Im Streitfall hatten die Kläger zunächst nur die Abänderung des angefochtenen Steuerbescheids beantragt. Das FG erließ daraufhin einen Vorbescheid, der sich auf die Aufhebung der Einspruchsentscheidung beschränkte. Nachdem das FA hiergegen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hatte und der Vorbescheid dadurch hinfällig geworden war (§ 90 Abs. 3 Satz 3 FGO), unterstützten die Kläger schriftsätzlich die Auffassung des FG, ohne allerdings ihren ursprünglichen Klageantrag zu ändern. Da das Klagebegehren auch der Begründung der Klage entnommen werden kann (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. November 1979 GrS 1/78, BFHE 129, 117, BStBl II 1980, 99), durfte das FG bei der Urteilsfindung davon ausgehen, daß die Kläger nunmehr in erster Linie die Aufhebung der Einspruchsentscheidung und nur hilfsweise ihre inhaltliche Abänderung begehrten.

2. Das FG hat die Einspruchsentscheidung allein im Hinblick auf die örtliche Unzuständigkeit des FA aufgehoben; es hätte jedoch auch prüfen müssen, welche Einkommensteuer die Kläger schulden und ob die Einspruchsentscheidung danach sachlich zu Recht besteht.

a) Nach § 127 AO 1977 kann im Verwaltungsverfahren die Aufhebung eines nicht nach § 125 AO 1977 nichtigen Verwaltungsakts, der unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, nicht begehrt werden, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. In dieser mit § 46 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) übereinstimmenden Regelung kommt zum Ausdruck, daß Verfahrensfehler im Verwaltungsverfahren ein geringeres Gewicht haben als sachlich-rechtliche Mängel und daß eine unnötige Wiederholung des Verwaltungsverfahrens vermieden werden soll (vgl. Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., § 46 Anm. 2; derselbe, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl., § 113 Anm. 31, jeweils m. w. N.). Diese Regelung ist auch für die Gerichte bedeutsam (BFH-Urteil vom 2. Juli 1980 I R 74/77, BFHE 131, 180, BStBl II 1980, 684). Der Bürger und Steuerpflichtige ist demgemäß durch einen verfahrensrechtswidrig ergangenen Verwaltungsakt nicht in seinen Rechten nach § 113 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. § 100 Abs. 1 FGO verletzt, wenn der Verwaltungsakt seinem materiellrechtlichen Inhalt nach nicht anders hätte ergehen können.

Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren führt diese Regelung dazu, daß das Gericht im Falle der Anfechtung eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts, für den weder ein Ermessens- noch ein Beurteilungsspielraum besteht, auch bei vorliegenden Verfahrensfehlern stets über die materielle Rechtmäßigkeit entscheidet. Verfahrensfehler, auch der Mangel der örtlichen Zuständigkeit, haben danach nur Bedeutung, wenn das Gericht den angefochtenen Verwaltungsakt auch aus materiell-rechtlichen Gründen aufhebt (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 3. Mai 1982 VI C 60/79, BVerwGE 65, 287). Braucht das Gericht den angefochtenen Verwaltungsakt nicht aufzuheben, sondern kann es ihn auch inhaltlich abändern, wie dies bei den feststellenden und bei den auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakten des § 113 Abs. 2 VwGO der Fall ist, so muß es ungeachtet des Verfahrensfehlers zur Sache entscheiden und den Verwaltungsakt gegebenenfalls abändern (BVerwGE 65, 287).

b) Für das steuergerichtliche Verfahren bedeutet § 127 AO 1977, daß das FG einen Verwaltungsakt nicht allein wegen der örtlichen Unzuständigkeit des FA aufheben darf, sondern auch feststellen muß, ob materiell-rechtlich eine andere Entscheidung hätte getroffen werden können (BFHE 131, 180, BStBl II 1980, 684). Die abweichende Auffassung im BFH-Urteil vom 5. März 1974 I R 91/72 (BFHE 111, 460, BStBl II 1974, 359) ist durch die Rechtsentwicklung überholt. Da das FG gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO einen angefochtenen Steuerbescheid auch inhaltlich abändern darf und einem darauf gerichteten Antrag folgen muß (BFH-Beschluß vom 16. Dezember 1968 GrS 3/68, BFHE 94, 436, BStBl II 1969, 192), liegt die Folgerung nahe, daß auch die FG ungeachtet des Verfahrensfehlers über die Höhe der geschuldeten Steuer befinden und diese gegebenenfalls neu festsetzen müssen.

Ungeachtet der Abänderungsbefugnis in § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO hat die Rechtsprechung jedoch angenommen, daß der Kläger seinen Antrag auf die Aufhebung des Steuerbescheids begrenzen kann; das Gericht muß in diesem Fall allerdings Feststellungen über den Umfang der Rechtswidrigkeit, d. h., auch über die Höhe der geschuldeten Steuer, treffen (BFH-Urteil vom 24. Juni 1970 I R 6/68, BFHE 100, 20, BStBl II 1970, 802). In diesem Fall kann die Aufhebung auch auf die örtliche Unzuständigkeit des FA mit der möglichen Folge gestützt werden, daß die Neufestsetzung vom zuständigen FA vorzunehmen ist.

Aufgrund dieser Rechtslage muß das FG in jedem Fall die Höhe der geschuldeten Steuer feststellen und zu diesem Zwecke erforderlichenfalls eigene Ermittlungen anstellen. Hierauf kann es nach seinem Ermessen gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO nur verzichten, wenn wesentliche Verfahrensmängel vorhanden sind und eine weitere, einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordernde Aufklärung erforderlich wird; in diesem Fall kann es den Verwaltungsakt aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Die erforderliche Aufklärung wird alsdann vom FA unter Vermeidung des Verfahrensfehlers nachgeholt.

c) Diese Grundsätze sind auch für Verfahrensfehler im außergerichtlichen Vorverfahren bedeutsam; solche Fehler können kein größeres Gewicht als Mängel in einem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren haben. Wie der Senat in seiner Entscheidung in BFHE 136, 445, BStBl II 1983, 21 ausgeführt hat, ist Gegenstand der Anfechtungsklage nach § 44 Abs. 2 FGO grundsätzlich der Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf gefunden hat, so daß die Klage nur ausnahmsweise und unter der Voraussetzung auf die Einspruchsentscheidung beschränkt werden kann, daß dem FA im Einspruchsverfahren ein Verfahrensfehler unterlaufen ist und der Kläger ein berechtigtes Interesse an einer erneuten Einspruchsentscheidung darlegt. Dies ist angenommen worden, wenn das FA den Einspruch zu Unrecht als unzulässig angesehen hat (BFH-Urteile vom 18. Oktober 1972 II R 110/69, BFHE 107, 409, BStBl II 1973, 187; vom 7. Juli 1976 I R 66/75, BFHE 119, 368, BStBl II 1976, 680). Hat das FA jedoch zur Sache entschieden, so erlangt ein Verfahrensfehler entsprechend § 127 AO 1977 auch im Einspruchsverfahren grundsätzlich nur Bedeutung, wenn sich die Steuerfestsetzung als unzutreffend erweist. Von den für eine solche Beurteilung erforderlichen Ermittlungen kann das FG auch hier nur unter der Voraussetzung des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO absehen.

Auch im Streitfall hätte das FG demnach Ermittlungen zur Höhe der von den Klägern geschuldeten Steuer anstellen müssen. Seiner Auffassung, § 127 AO 1977 sei nicht anwendbar, weil sich die Klage gegen eine Ermessensentscheidung des FA, nämlich die Zuständigkeitsregelung gemäß § 26 AO 1977, richte, kann nicht zugestimmt werden. Klagegegenstand ist der Einkommensteuerbescheid 1972 in der Fassung der Einspruchsentscheidung; die Zuständigkeitsregelung erlangt nur im Rahmen dieses Verwaltungsakts Bedeutung. Zur Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung sind nach dem gegenwärtigen Sachstand Ermittlungen erforderlich. Auf sie kann das FG auch in Ansehung des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht verzichten. Wegen der streitigen Werbungskosten hat nämlich bereits das FA im Einspruchsverfahren Ermittlungen vorgenommen und danach den Abzug teilweise zugelassen. In einem solchen Fall entspricht es sachgerechter Ermessensausübung, daß das FG die erforderlichen Ermittlungen selbst anstellt, damit die Sache zu einem Abschluß gelangt. Auf die Frage, ob das FA § 26 AO 1977 richtig angewendet hat, ob es insbesondere die Kläger anhören mußte, braucht der Senat nach dem gegenwärtigen Sachstand nicht einzugehen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 74942

BStBl II 1984, 342

BFHE 1984, 132

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