Leitsatz (amtlich)

1. Eine Rückstellung für Schadensersatzverpflichtungen, die auf einer betrieblich bedingten Fahrt mit einem dem Betrieb gehörigen PKW durch eine Verletzung Dritter entstanden sind, ist grundsätzlich zulässig, wenn der Schädiger den Unfall nicht grob fahrlässig oder vorsätzlich verursacht hat.

2. Eine grobe Fahrlässigkeit ist in einem Handeln zu sehen, bei dem die erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich großem Maß verletzt worden ist und dasjenige unbeachtet geblieben ist, was in gegebenem Fall jedem hätte einleuchten müssen.

2. Zur Revisibilität bei dem unbestimmten Rechtsbegriff "grob fahrlässig".

 

Normenkette

EStG § 4 Abs. 4, § 5; FGO § 118

 

Tatbestand

Bei einer betrieblich veranlaßten Fahrt mit dem der steuerpflichtigen KG gehörigen PKW hat der Kommanditist im Jahre 1947 einen Verkehrsunfall verursacht. Zu dem Unfall kam es dadurch, daß der Kommanditist an einer haltenden Straßenbahn, in die auf der rechten Seite Fahrgäste einstiegen, links vorbeifuhr. Er fuhr dabei die Studentin A an, die sich gerade anschickte, die linke Straßenseite zu überqueren.

Der Kommanditist ist wegen des Unfalls vom Amtsgericht B wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt worden. Das anschließende Berufungsverfahren wurde durch Beschluß des Landgerichts (LG) auf Grund eines Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit eingestellt.

In dem bürgerlichen Rechtsstreit sind der Kommanditist und die KG auf eine Feststellungsklage verurteilt worden, der A den ihr aus dem Unfall entstandenen und noch entstehenden Schaden zu ersetzen, die KG jedoch nur bis zur Höhe von 25 000 DM. Die Berufungen hatten keinen Erfolg. Das LG und das Oberlandesgericht (OLG) führten aus, der Kommanditist habe den Unfall grob fahrlässig verursacht.

Die Leistungsklage der A hat mit einem Vergleich geendet. Auf Grund der in den Vergleich aufgenommenen Klausel, daß die Rente unter bestimmten Voraussetzungen jeweils dem Tarif für Angestellte des öffentlichen Dienstes anzupassen sei, machte die A später Rentenerhöhungsansprüche geltend. Die Versicherung, bei der das Unfallfahrzeug versichert war und die die Leistungen aus dem Vergleich erbrachte, erkannte die Erhöhungsansprüche teilweise an. Sie teilte der KG am 21. Dezember 1962 mit, daß unter Zugrundelegung der bisherigen Schadensersatzleistungen und der wahrscheinlich noch zu erbringenden Leistungen die Deckungssumme von 250 000 DM voraussichtlich um 32 579,76 DM überschritten werden würde.

Die KG hat in ihren Bilanzen bis zum 31. Dezember 1961 keine Rückstellung für die Schadensersatzverpflichtung ausgewiesen. Ihr Gewinn für das Streitjahr 1961 wurde ohne Berücksichtigung einer Schadensersatzverpflichtung festgestellt.

Erstmals in ihrem Einspruch gegen den nach § 222 Abs. 1 AO berichtigten Feststellungsbescheid für 1961 machte die KG eine Gewinnminderung in Höhe von 32 579,76 DM geltend. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Das FG hielt die Berufung für begründet. Es führte im wesentlichen aus:

Eine Rückstellung für künftige ungewisse Verbindlichkeiten könne nur anerkannt werden, wenn die damit in Zusammenhang stehenden Ausgaben auf betrieblichen Vorgängen beruhten. Auf einer betrieblichen Fahrt entstandene Schadensersatzverpflichtungen seien grundsätzlich durch den Betrieb veranlaßt. Nur wenn der Unfall vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht worden sei, komme eine Rückstellung nicht in Betracht. Im Streitfall sei eine grobe Fahrlässigkeit des Kommanditisten nicht feststellbar. Der Kommanditist habe zwar insoweit fahrlässig gehandelt, als er sich nicht rechtzeitig vor dem Erreichen der Straßenbahn auf eine mögliche Straßenglätte eingestellt habe. Seine Geschwindigkeit von 25 st/km zur Zeit des Unfalls sei jedoch für eine großstädtische Straße zu verkehrsarmer Zeit nicht ungewöhnlich gewesen. Es sei dem Kommanditisten nicht zu widerlegen, daß er erst beim Bremsversuch selbst die Straßenglätte bemerkt habe und daß ihm deshalb keine andere Wahl geblieben sei, als hinter der Straßenbahn nach links auszuscheren und an ihr links vorbeizufahren. Denn nachdem er sich auf der linken Fahrbahnseite befunden habe, habe er bestrebt sein müssen, die Fahrbahn wieder frei zu machen. Daß er hierbei seine Geschwindigkeit beibehalten habe, erhöhe sein Verschulden nicht. Soweit das LG und das OLG dem Kommanditisten grobe Fahrlässigkeit zur Last gelegt hätten, sei das für das FG nicht bindend.

Mit der Rechtsbeschwerde, die nach dem Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandeln ist, rügt das FA Verletzung des § 4 Abs. 4 EStG. Im Streitfall liege grobe Fahrlässigkeit vor. Das hätten sowohl das LG als auch das OLG bestätigt.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist begründet.

Das FG ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, daß Rückstellungen handelsrechtlich und steuerrechtlich dem Grund oder der Höhe nach ungewisse Verbindlichkeiten des Unternehmens voraussetzen. Es ist der Zweck der Rückstellung, gerade auch solche Verbindlichkeiten zu berücksichtigen, die rechtlich erst in der Zukunft entstehen, wirtschaftlich aber in einem abgelaufenen Wirtschaftsjahr verursacht worden sind (vgl. das Urteil des BFH I R 50/67 vom 24. April 1968, BFH 92, 224, BStBl II 1968, 544). Insbesondere sind auch Rückstellungen für eine aufschiebend bedingte Verbindlichkeit zulässig (vgl. BHF-Urteil I R 50/67, a. a. O.), wie sie im Streitfall vorliegt; denn der Kommanditist ist erst dann zur Leistung verpflichtet, wenn und soweit der Anspruch der A die Decksumme von 250 000 DM übersteigt.

Das FG hat weiter zutreffend beachtet, daß Rückstellungen nur statthaft sind, soweit die künftigen ungewissen Ausgaben betrieblich veranlaßt sind (§ 4 Abs. 4 EStG). Verpflichtungen zur Leistung von Schadensersatz, die im Zusammenhang mit betrieblichen Vorgängen stehen, sind zwar grundsätzlich durch den Betrieb veranlaßt. Das hat auch für Schadensersatzverbindlichkeiten aus Anlaß einer betrieblichen Fahrt zu gelten. Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, sind aber die Kosten zur Beseitigung von Schäden, die einem Arbeitnehmer auf dem Weg zur Arbeitsstätte entstanden sind, nur dann als Werbungskosten anzuerkennen, wenn der Arbeitnehmer den Schaden nicht grob fahrlässig oder gar vorsätzlich verursacht hat (vgl. Urteile VI 79/60 S vom 2. März 1962, BFH 74, 513, BStBl III 1962, 192, und VI 75/63 vom 28. August 1964, StRK, Einkommensteuergesetz, § 9, Rechtsspruch 278). Diese Grundsätze sind, wie das FG mit Recht ausgeführt hat, auch auf Fälle der vorliegenden Art anzuwenden, bei denen es nicht um Werbungskosten, sondern um Betriebsausgaben geht.

Im Streitfall bestehen jedoch gegen die Rückstellung in der Schlußbilanz 1961 schon von vornherein gewisse Bedenken. Hat nämlich ein Kaufmann zu einem Bilanzstichtag eine Rückstellung unterlassen, so kann eine Nachholung der Rückstellung zu einem späteren Bilanzstichtag unzulässig sein. Einer späteren besseren Erkenntnis kann der Kaufmann allerdings durch Erhöhung oder durch Bildung einer erstmaligen Rückstellung zu einem späteren Bilanzstichtag Rechnung tragen, ohne daß darin eine unstatthafte Nachholung zu erblicken wäre (vgl. das BFH-Urteil I 73/56 U vom 24. August 1956, BFH 63, 328, BStBl III 1956, 323; Littmann, Das Einkommensteuerrecht, 8. Aufl., §§ 4, 5 Rndnr. 374). Es genügt für eine Erhöhung oder erstmalige Bildung der Rückstellung jedoch nicht, daß ein Steuerpflichtiger dieselben tatsächlichen Gegebenheiten, die ihm bei der ursprünglichen Schätzung der Höhe der Rückstellung maßgeblich erschienen, später nur anders würdigt; vielmehr müssen neue objektive Gesichtspunkte eine andere Beurteilung veranlassen. Ob im Streitfall solche neuen Gesichtspunkte im Jahre 1961 zutage getreten sind und ob daher nicht, wenn überhaupt, nur die tatsächlichen Zahlungen selbst berücksichtigt werden können, erscheint dem Senat zweifelhaft. Diese Frage braucht jedoch nicht vertieft zu werden. Denn jedenfalls ist eine Rückstellung schon deshalb nicht zulässig, weil der Kommanditist den Unfall - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - grob fahrlässig verursacht hat.

Der Begriff "grob fahrlässig" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, da es sich um einen Begriff mit wertendem Gehalt und mit fließenden Grenzen handelt (vgl. Henke, Die Tatfrage, 1966, 280 und 76, 79). Ob das FG diesen Begriff zutreffend ausgelegt hat, ist im Revisionsverfahren nachprüfbar (vgl. z. B. das Urteil des BGH IV ZR 170/52 vom 11. Mai 1953, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 10 S. 14, 16, das Urteil des BVerwG V C 30/54 vom 1. Juli 1955, Verwaltungsrechtsprechung 8 Nr. 55, und das Urteil des BAG 2 AZR 402/55 vom 19. März 1959, Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bd. 7 S. 290, 301).

Das angefochtene Urteil läßt nicht unmittelbar und ausdrücklich erkennen, was das FG unter grober Fahrlässigkeit verstanden hat. In dem Urteil wird von "leichtfertigem", "sozialwidrigem" und "mit überwiegender persönlicher Schuld" behaftetem Verhalten gesprochen. Es ist unter diesen Umständen nicht klar erkennbar, ob das FG von dem Begriff der groben Fahrlässigkeit, wie er der allgemein anerkannten Auffassung entspricht, ausgegangen ist. Nach der allgemeinen Auffassung ist eine grobe Fahrlässigkeit in einem Handeln zu sehen, bei dem die erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich großem Maß verletzt worden ist und bei dem dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vgl. z. B. das Urteil des BGH IV ZR 170/52, a. a. O.). Auch wenn das FG von diesem Begriff ausgegangen ist, hat es ihn im Streitfall aber nicht richtig angewandt.

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob dem BGH und dem BVerwG in der Ansicht zu folgen ist, was im gegebenen Fall "grob" sei, liege auf tatsächlichem Gebiet und sei folglich im wesentlichen eine tatrichterliche Frage (vgl. die Urteile des BGH IV ZR 170/52, a. a. O.; III ZR 207/61 vom 28. Februar 1963, Versicherungs-Recht 1963 S. 652, 654, und das Urteil des BVerwG V C 30/54, a. a. O.; ebenso Henke, a. a. O., S. 281 ff.; Wieczorek, Zivilprozeßordnung, Bd. III, § 550, Anm. A II e 2; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl., § 137 Anm. 9; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 29. Aufl., § 550, Anm. 2 H) oder ob der Ansicht des BAG zuzustimmen ist, nicht nur die Auslegung, sondern auch die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs seien revisibel (vgl. die Entscheidungen des BAG 1 ABR 30/54 vom 2. November 1955, Hueck-Nipperdey-Dietz, Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts - Arbeitsrechtliche Praxis - § 23 Betriebsverfassungsgesetz Nr. 1, und 2 AZR 402/55, a. a. O.; ebenso im Ergebnis Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 118 Rndnr. 13; v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Reichsabgabenordnung, § 118 FGO Anm. 21; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 2.-3. Aufl., § 118 FGO Anm. 4; Redeker-v. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. § 137 Anm. 8). Während einerseits das BAG selbst (a. a. O.) der einschränkenden Ansicht ist, daß die Tatsacheninstanz einen gewissen Beurteilungsspielraum habe, der sich der Nachprüfung durch die Revisionsinstanz entziehe, lassen andererseits der BGH (a. a. O.) und das BVerwG (a. a. O.) es zu, daß die tatrichterliche Entscheidung insoweit, als es um die Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen geht, auf Verstöße gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze überprüft wird. Von welcher Auffassung aber man auch ausgeht, auf jeden Fall ergibt sich die Zulässigkeit der Feststellung, daß das FG hier grobe Fährlässigkeit zu Unrecht verneint hat.

Nach Auffassung des Senats hat das FG, folgt man dem BAG, seinen Beurteilungsspielraum überschritten bzw. gegen Erfahrungssätze verstoßen, wenn man dem BGH und dem BVerwG folgt. Dem FG ist zwar darin zuzustimmen, daß es an die Würdigung des LG und des OLG, es liege grobe Fahrlässigkeit vor, nicht gebunden ist. Es hätte jedoch, wenn es im Ergebnis zutreffend von dieser - doch wesentlich zeitnäheren - Würdigung hätte abweichen wollen, ganz erhebliche Gesichtspunkte zugunsten des Kommanditisten feststellen müssen. Derartige Gesichtspunkte sind aber weder festgestellt noch ersichtlich. Der Senat ist der Auffassung, daß ein PKW-Fahrer, der hinter einer zum Aus- und Einsteigen der Fahrgäste anhaltenden Straßenbahn mit seinem Wagen nicht rechtzeitig zum Stehen kommt, sich wegen der dadurch notwendigerweise bedingten Gefährdung von Menschenleben schon ganz grundsätzlich vorhalten lassen muß, daß er die nach den Umständen gebotene Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maße verletzt hat. Wie die Witterungsverhältnisse nun einmal waren, mußte der Kommanditist auch mit einer plötzlich auftretenden Straßenglätte rechnen. Selbst wenn er aber wegen besonderer Umstände nicht rechtzeitig hinter der haltenden Straßenbahn bremsen konnte und deshalb - um Fahrgäste zu schonen - nach links ausscheren mußte, durfte er jedenfalls nicht mit unverminderter Geschwindigkeit an der haltenden Straßenbahn links vorbeifahren. Tat er das dennoch, so setzte er eine so erhebliche Verkehrsgefahr, daß Unfälle in gesteigertem Maß möglich waren. Denn er mußte damit rechnen, daß Fahrgäste vor der Straßenbahn von rechts nach links die Straße überqueren wollten und ihrerseits nicht damit zu rechnen brauchten, daß von links hinter der Straßenbahn ein Fahrzeug kommen könne; er mußte aber auch damit rechnen, daß - wie geschehen - Passanten von links nach rechts die Straße überqueren wollten, um noch die haltende Straßenbahn zu erreichen, und ihrerseits ebenfalls nicht damit zu rechnen brauchten, daß noch vor der Straßenbahn von rechts ein Fahrzeug kommen könne. Demnach bildete das Verhalten des Kommanditisten für Fußgänger aus jeder Richtung eine völlig unvorhergesehene Gefahr, die ohne weiteres zu einem Unfall führen konnte, wie er dann auch tatsächlich herbeigeführt worden ist. Damit hat der Kommanditist die erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maß verletzt und außer acht gelassen, was einem jeden hätte einleuchten müssen.

Die Vorentscheidung, die von anderen Erwägungen ausging, war danach aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Da nach dem Dargelegten die Einspruchsentscheidung im Ergebnis zutreffend ist, war die Klage als unbegründet abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68483

BStBl II 1969, 316

BFHE 1969, 104

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