Leitsatz (amtlich)

Ein Haftungsanspruch kann auch dann vor dem Steueranspruch verjähren, wenn er auf § 109 AO beruht (Abgrenzung zum BFH-Urteil vom 21. Oktober 1959 VII 31/59 U, BFHE 70, 60, BStBl III 1960, 23).

 

Normenkette

AO §§ 109, 143-144, 147

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hatte im Jahre 1955 eine gegen die B-GmbH gerichtete Forderung in Höhe von 668 000 DM erworben. Die Restiorderung in Höhe von 240 000 DM und die Geschäftsanteile an der B-GmbH in Höhe von 760 000 DM waren im Besitz einer V-GmbH und wurden von dieser für den Kläger treuhänderisch verwaltet. Geschäftsführer der B-GmbH war der Kaufmann X der für die richtige buchhalterische Erfassung aller Vorgänge sorgen sollte, auf die Geschäftspolitik der GmbH selbst aber keinen Einfluß nahm.

Im Lauie des Jahres 1956 tätigte die hochverschuldete B-GmbH ihr einziges größeres Geschäft, das zu einem Gewinn von rd. 722 000 DM führte. Von den im Jahre 1956 erzielten Einnahmen ließ sich der Kläger am 21. Dezember 1956 wegen seiner Forderung von insgesamt 908 000 DM einen Betrag von 780 000 DM auszahlen.

Durch Steuerbescheid vom 17. Oktober 1959 zog der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) die B-GmbH für die Jahre 1955 und 1956 zur Zahlung von Körperschaftsteuer in Höhe von 309 019 DM und einer Abgabe "Notopfer Berlin" (NOB) in Höhe von 28 086 DM heran; die Voraussetzungen für den beantragten Verlustabzug nach § 10 d EStG hielt das FA nicht für gegeben. Der auf den Einspruch der B-GmbH hin geänderte Körperschaftsteuerbescheid vom 18. September 1961 (Körperschaftsteuerschuld: 269 073 DM; NOB: 24 456 DM) wurde bestandskräftig. Den beantragten Billigkeitserlaß lehnte das FA ab; es gewährte der B-GmbH während des sich anschließenden Klageverfahrens jedoch mehrfach Vollstrekkungsaufschub.

Bei der nach Abschluß des Klageverfahrens durchgeführten Zwangsversteigerung eines Grundstücks der B-GmbH fiel das FA mit seiner Steuerforderung aus. Es erließ daraufhin am 13. Mai 1968 gegen den Kläger einen Haftungsbescheid in Höhe der von der B-GmbH nicht gezahlten Steuern zuzüglich Steuersäumniszuschlägen. Es begründete diese Entscheidung damit, daß der Kläger als Gesellschafter-Geschäftsführer durch die Zahlung der Schuld an sich selbst der B-GmbH die Möglichkeit genommen habe, ihren Steuerverpflichtungen nachzukommen.

Der Einspruch führte lediglich zu einer Herabsetzung der Haftungsschuld um die Säumniszuschläge, blieb aber im übrigen erfolglos. Das FG wies die Klage ab. Die B-GmbH sei zu Recht zur Körperschaftsteuer und zur Abgabe NOB herangezogen worden; ein Verlustabzug könne bei dem hier vorliegenden Kauf eines GmbH-Mantels nicht vorgenommen werden. Rechtsgrund des Haftungsanspruchs sei § 109 i. V. m. § 103 AO; der Kläger sei Verfügungsberechtigter i. S. des § 108 AO gewesen.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung formellen (§ 76 FGO) und materiellen Rechts (§ 6 KStG, § 10 d EStG, §§ 103, 108, 109, 148 AO) sowie Verstoß gegen die allgemeinen Denkgesetze.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung, den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Der erkennende Senat braucht im Streitfall nicht zu entscheiden, ob ein Steueranspruch in der vom FA geltend gemachten Höhe und ein Haftungsanspruch gegenüber dem Kläger besteht. Auch wenn mit dem FG das Bestehen dieser Ansprüche zu bejahen wäre, wäre - soweit nicht der Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt ist - der Haftungsanspruch des FA durch Verjährung erloschen (§ 148 AO).

1. Nach § 97 Abs. 2 AO gelten die Vorschriften für die Steuerpflichtigen sinngemäß für die, die nach den Steuergesetzen neben den Steuerpflichtigen oder an deren Stelle persönlich haften. Der Haftungsanspruch des Steuerberechtigten unterliegt deshalb der Verjährung (§§ 143 ff. AO). Die Verjährungsfrist beträgt für einen auf die Zahlung von Körperschaftsteuer und der Abgabe NOB gerichteten Haftungsanspruch fünf Jahre (§ 144 AO). Gegen den Steuerschuldner und den Haftungsschuldner laufen grundsätzlich getrennte Verjährungsfristen (§ 7 Abs. 1 StAnpG; § 425 Abs. 2 BGB; und dazu Urteil des BFH vom 13. Juni 1962 II 161/57, StRK, Reichsabgabenordnung, § 147, Rechtsspruch 30; BFH-Beschlüsse vom 15. November 1966 I B 16/66, BFHE 87, 270, BStBl III 1967, 130; vom 23. Juni 1971 I B 16/71, BFHE 103, 24, BStBl II 1971, 730). Die Voraussetzungen der Verjährung sind deshalb für jeden der beiden Ansprüche gesondert zu prüfen.

2. Der BFH hat abweichend von diesen Grundsätzen in seinem Urteil vom 21. Oktober 1959 VII 31/59 U (BFHE 70, 60, BStBl III 1960, 23) die Auffassung vertreten, daß ein auf § 109 AO gegründeter Haftungsanspruch nicht vor dem Steueranspruch verjährt. Beide Ansprüche stünden mit dem Verhalten und der Verantwortlichkeit des Vertreters und daher auch miteinander in einem so engen Zusammenhang, daß, solange der verkürzte Steueranspruch verfolgbar ist, derjenige, auf dessen Verschulden die Verkürzung beruhe, auch selbst mit einer Inanspruchnahme als Haftender rechnen müsse.

Der Senat folgt dieser Ansicht - die auch von einem Teil des Schrifttums abgelehnt wird (vgl. insbesondere Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl., 1963, § 147 AO Anm. 2 e Abs. 5 und 6; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 147 AO, Anm. 13, mit weiteren Nachweisen) - in dieser Allgemeinheit nicht. Die Reichsabgabenordnung sieht zwar - abweichend von § 425 Abs. 2 BGB - in § 149 AO vor, daß der Haftungsschuldner von der Haftung befreit wird, wenn der Steueranspruch verjährt ist. Dies ergibt sich aus der Abhängigkeit der Haftungsschuld vom Bestand der Steuerschuld. Demgegenüber fehlt eine gesetzliche Regelung, die die Verjährung des Haftungsanspruchs vor der Verjährung des Steueranspruchs ausschließt. Ein solcher Ausschluß läßt sich auch nicht mit dem Sinn und Zweck der Haftung aus § 109 AO begründen. Die Haftung des Vertreters - oder einer diesem gleichzustellenden Person - soll die durch sein Verschulden entstandenen Steuerausfälle ausgleichen. Entsprechend diesem Zweck sind für die Verjährung des Haftungsanspruchs folgende Besonderheiten zu beachten:

Die Verjährung von Haftungsansprüchen beginnt mit dem Ablauf des Jahres, in dem sie entstanden sind (§ 145 Abs. 1, § 143 AO), d. h. mit Ablauf des Jahres, in dem der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Haftungs folge knüpft (§ 3 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 und 2 StAnpG). Der Zeitpunkt der Verwirklichung des Haftungsanspruchs und der Zeitpunkt der Verwirklichung des Steueranspruchs können deshalb auseinanderfallen. Beruht die Haftung auf § 109 AO, muß zu der schuldhaften Pflichtverletzung - hier der Pflicht, für die Entrichtung der Steuern aus den vom Kläger verwalteten Mitteln der B-GmbH zu sorgen (§ 103 Satz 1 AO) - eine durch diese Pflichtverletzung verursachte Verkürzung von Steueransprüchen hinzutreten. Verkürzt ist ein Steueranspruch dann, wenn die Steuerschuld nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig an die Finanzkasse abgeführt wird (vgl. Urteile des RFH vom 20. Dezember 1927 IV A 400/27, RFHE 22, 281 [286]; vom 8. Februar 1939 VI 729/38, RStBl 1939, 327; BFH-Urteile vom 25. Juni 1953 IV 513/52, StRK, Reichsabgabenordnung, § 109, Rechtsspruch 3; vom 21. Januar 1954 IV 239/53 U, BFHE 58, 655, BStBl III 1954, 161; Paulick in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 109 AO Anm. 3 a; Tipke-Kruse, a. a. O., § 109 AO Anm. 4). Erst wenn der Verkürzungserfolg eingetreten ist, ist der Haftungstatbestand nach Grund und Höhe erfüllt. Mit Ablauf des Jahres, in das dieser Zeitpunkt fällt, beginnt der Lauf der Verjährungsfrist. Auf das Ende dieser Frist hat der besondere Haftungsgrund des § 109 AO jedoch keinen Einfluß.

3. Bei Beachtung dieser Grundsätze wäre ein gegen den Kläger gerichteter Haftungsanspruch im Zeitpunkt der Fälligkeit der Körperschaftsteuer und der Abgabe NOB entstanden. Veranlagungssteuern werden nicht vor ihrer Festsetzung fällig (vgl. BFH-Urteil vom 21. Juli 1955 II 55/54 U, BFHE 61, 264, BStBl III 1955, 298). Körperschaftsteuerabschlußzahlungen sind - wenn das FA keine längere Zahlungsfrist festsetzt - grundsätzlich innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Steuerbescheids zu entrichten (vgl. § 20 Abs. 1 KStG, § 47 Abs. 2 EStG). Mit Ablauf dieser Frist - hier spätestens am 20. November 1959 - tritt die Fälligkeit ein.

Von diesem Zeitpunkt ist auch im Streitfall auszugehen. Die ursprüngliche Fälligkeit kann zwar durch besondere Verfügung hinausgeschoben werden. In diesem Fall bestimmt erst der Ablauf dieser Frist den Zeitpunkt, bis zu welchem die Zahlung spätestens zu entrichten ist (§§ 3 Abs. 2 StAnpG, 99 AO). Als solche Verfügungen kommen vor allem die Stundung, aber auch der vom FA im Streitfall mehrmals gewährte Vollstreckungsaufschub in Betracht, wenn er dem Steuerpflichtigen mitgeteilt worden ist (vgl. RFH-Urteil vom 25. April 1934 IV A 243/33, RStBl 1934, 609; BFH-Urteil vom 23. September 1960 III 43/59, HFR 1962, 112; Schwarz in Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O. § 333 AO, Anm. 10; Tipke-Kruse, a. a. O., § 99 Anm. 1). Sie bewirken, daß der Steueranspruch vor Ablauf der gesetzten Frist nicht vollstreckbar ist; sie lassen jedoch - worauf der BFH bereits in seinem Urteil vom 9. Dezember 1955 IV 397/54 U (BFHE 62, 176, BStBl III 1956, 66) für eine dem Steuerschuldner nachträglich gewährte Stundung hingewiesen hat - den auf § 109 AO begründeten Haftungsanspruch unberührt. Solche Stundungen kommen nur demjenigen zustatten, an den sie sich richten (§ 425 Abs. 2 BGB; vgl. auch Tipke-Kruse, a. a. O., § 7 StAnpG, Anm. 2). Für einen dem Steuerschuldner vom FA gewährten Vollstreckungsaufschub gilt nichts anderes. Maßnahmen der Vollstreckung setzen voraus, daß die Fälligkeit der Steuerschuld bereits eingetreten war; sie verhindern zwar die Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Steuerpflichtigen; sie bewirken aber nicht, daß der Haftungsschuldner von seiner Verpflichtung befreit wird.

4. Die Verjährung des Haftungsanspruchs wurde auch nicht unterbrochen (§ 147 Abs. 1 AO).

Unterbrechungshandlungen wirken nur gegen denjenigen, gegen den sie gerichtet sind (BFH-Urteil II 161/57; BFH-Beschluß I B 16/66). Die Rechtsprechung hat auch insoweit für den auf § 109 AO beruhenden Haftungsanspruch eine Ausnahme in jenen Fällen zugelassen, in denen der Haftungsschuldner der alleinige Vertreter des Steuerschuldners ist (RFH-Urteil vom 17. Januar 1939 I 345/38, RStBl 1939, 325; BFH-Urteil vom 23. Oktober 1959 VI 251/57 U, BFHE 70, 65, BStBl III 1960, 25; BFH-Beschluß I B 16/66; vgl. auch Becker-Riewald-Koch, a. a. O., § 147 Anm. 2 e Abs. 4). Ob und inwieweit diese Ausnahme berechtigt ist, braucht der Senat im Streitfall nicht zu prüfen. Entsprechend der in § 119 AO für die Anfechtung von Steuerbescheiden durch Vertreter und Bevollmächtigte getroffenen Regelung haben gegen den Steuerpflichtigen gerichtete Maßnahmen des FA auch gegenüber diesen Personen nur dann verjährungsunterbrechende Wirkung, wenn ihnen diese Maßnahmen in ihrer Eigenschaft als Vertreter oder Bevollmächtigte bekanntgeworden sind. Der im Streitfall vom FA mehrmals gewährte Vollstreckungsaufschub ist gegen den Kläger nicht wirksam geworden. Dieser war weder gesetzlicher Vertreter noch Bevollmächtigter der B-GmbH.

5. Der Senat kann in der Sache selbst nicht entscheiden. Den Feststellungen des FG läßt sich nicht entnehmen, ob der Kläger die Unfähigkeit der B-GmbH zur Zahlung ihrer - später fällig werdenden - Steuerschulden bewußt und gewollt herbeigeführt und damit den Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 392 AO) verwirklicht hat. In diesem Fall ist der Steueranspruch noch nicht erloschen, weil die nach § 144 Abs. 1 Satz 1 AO maßgebliche Zehnjahresfrist im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides noch nicht abgelaufen war.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72217

BStBl II 1977, 257

BFHE 1977, 5

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