Entscheidungsstichwort (Thema)

Absoluter Revisionsgrund des nicht mit Gründen versehenen Urteils: Bezugnahme auf Einspruchsentscheidung

 

Leitsatz (amtlich)

Hat im finanzgerichtlichen Klageverfahren eine Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung stattgefunden und beschränkt sich das FG gleichwohl in seinem Urteil bei der Darstellung der Entscheidungsgründe ohne jegliche Würdigung der erhobenen Beweise auf eine Bezugnahme auf die nach seiner Auffassung zutreffende Begründung der Einspruchsentscheidung (§ 105 Abs.5 FGO), so ist das Urteil i.S. der § 116 Abs.1 Nr.5, § 119 Nr.6 FGO "nicht mit Gründen versehen" (Fortentwicklung der Rechtsprechung in dem BFH-Urteil vom 29. Juli 1992 II R 14/92, BFHE 169, 1, BStBl II 1992, 1043).

 

Normenkette

FGO § 96 Abs. 1 S. 3, § 105 Abs. 5, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6; GG Art. 103 Abs. 1

 

Tatbestand

Der in A wohnhafte Kläger und Revisionskläger (Kläger) machte in seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1990 nach Dienstreisegrundsätzen berechnete PKW-Fahrtkosten zu den Arbeitsstätten in C und D sowie Verpflegungsmehraufwendungen als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Er vertrat die Auffassung, es habe sich bei den Fahrten zu den beiden Ausbildungsstationen in C und D um Dienstreisen gehandelt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erkannte lediglich die Fahrtkosten in Höhe der Pauschbeträge des § 9 Abs.1 Satz 3 Nr.4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) an. Er war der Ansicht, die beiden Ausbildungsstätten seien regelmäßige Arbeitsstätten des Klägers gewesen. Er wies den Einspruch des Klägers mit der Begründung zurück, daß die Dauer der jeweiligen Ausbildungsstation von zwei bzw. acht Monaten keine Veranlassung böte, am Vorliegen einer regelmäßigen Arbeitsstätte zu zweifeln.

Das Finanzgericht (FG) erhob im Rahmen des Klageverfahrens durch Vernehmung des Zeugen B Beweis "über die näheren Einzelheiten der Tätigkeit des Klägers im Streitjahr, insbesondere in zeitlicher und örtlicher Hinsicht". Es wies sodann die Klage mit folgenden Entscheidungsgründen ab:

"Die Klage ist unbegründet. Das Gericht folgt der zutreffenden Begründung der Einspruchsentscheidung, so daß sich weitere Ausführungen gemäß § 105 Abs.5 FGO erübrigen."

Der Kläger rügt mit seiner vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, einen Mangel i.S. des § 119 Nr.6 der Finanzgerichtsordnung (FGO), eine Divergenz zu dem Urteil des BFH vom 4. Mai 1990 VI R 144/85 (BFHE 160, 532, BStBl II 1990, 856) sowie eine Verletzung des § 9 Abs.1 Sätze 1 und 3 Nr.4 EStG.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO). Das finanzgerichtliche Urteil ist als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, weil die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist (§ 119 Nr.6 FGO).

Der Mangel, nicht mit Gründen versehen zu sein, haftet der Vorentscheidung nicht bereits deshalb an, weil sich das FG zur Begründung seiner Entscheidung überhaupt auf die nach seiner Auffassung zutreffende Einspruchsentscheidung bezogen hat. Denn gemäß § 105 Abs.5 FGO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (FGO-Änderungsgesetz) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 2109, BStBl I 1993, 90) kann das Gericht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Verwaltungsaktes oder der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt. Der entscheidende Senat folgt dem II.Senat des BFH (Urteil vom 29. Juli 1992 II R 14/92, BFHE 169, 1, BStBl II 1992, 1043) jedoch in der Auffassung, daß die Möglichkeit der Bezugnahme auf die Begründung der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf --wie sie bereits in § 105 Abs.5 Satz 1 FGO a.F. unter engeren Voraussetzungen eröffnet war-- einer den Anforderungen des Art.103 Abs.1 des Grundgesetzes (GG) entsprechenden Einschränkung bedarf. Das bedeutet, daß das Gericht gemäß § 96 Abs.1 Satz 3 FGO auf wesentliches (neues) Vorbringen im Klageverfahren einzugehen hat, das in der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf nicht verbeschieden ist.

Was für neues Vorbringen gilt, trifft erst recht auf eine vom FG durchgeführte Beweisaufnahme zu. Denn die Begründung des Verwaltungsakts und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf können sich mit einer erst später, nämlich im finanzgerichtlichen Verfahren, durchgeführten Beweisaufnahme noch gar nicht auseinandergesetzt haben. Dann aber kann eine Bezugnahme auf die früher ergangenen Entscheidungen auch nicht geeignet sein, eine eigene Beweiswürdigung des FG zu ersetzen.

Zwar liegt nach zutreffender Auffassung der absolute Revisionsgrund, daß ein Urteil nicht mit Gründen versehen ist (§ 116 Abs.1 Nr.5, § 119 Nr.6 FGO), nicht bereits deshalb vor, weil das Urteil Widersprüche enthält, lückenhaft ist oder weil es auf ein einzelnes Tatbestandsmerkmal oder auf ein einzelnes Argument oder auf Einzelheiten des Sachverhalts nicht eingeht (vgl. z.B. BFH-Beschluß vom 30. Juli 1990 V R 49/87, BFH/NV 1991, 325). Von der Widersprüchlichkeit, Lückenhaftigkeit oder Unvollständigkeit unterscheidet sich aber das Fehlen jeglicher Beweiswürdigung so deutlich, daß in letzterem Fall eine andere Wertung gerechtfertigt ist. Auch der Bundesgerichtshof hat die Auffassung vertreten, daß ein Mangel i.S. des § 551 Nr.7 der Zivilprozeßordnung ("nicht mit Gründen versehen") vorliegen könne, wenn die Beweiswürdigung vollständig fehle (Beschluß vom 21. Dezember 1962 I ZB 27/62, BGHZ 39, 333 , 337 f. m.w.N.; vgl. auch Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 119 Anm.25).

Fehlt die Würdigung im finanzgerichtlichen Verfahren erhobener Beweise durch das FG vollständig, so geht es auch nicht an, die Rechtsfolge, daß das Urteil nicht mit Gründen versehen ist (§ 116 Abs.1 Nr.5, § 119 Nr.6 FGO), davon abhängig zu machen, ob im konkreten Einzelfall die ausdrückliche Würdigung der erhobenen Beweise schwierig gewesen wäre oder ob das Ergebnis der Beweisaufnahme offensichtlich war und auf der Hand gelegen hat. Zum einen könnte das Revisionsgericht diese Unterscheidung nicht treffen, ohne selbst erstmals die erhobenen Beweise zu würdigen. Zum anderen sollte das Verfahrensrecht im Interesse der Rechtsklarheit nicht mit vermeidbaren Unsicherheiten belastet werden. Das wäre aber der Fall, wenn an das Fehlen jeglicher Würdigung der im finanzgerichtlichen Verfahren erhobenen Beweise durch das FG vom jeweiligen Einzelfall abhängige, unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft würden. Da die Entscheidung, ob das Ergebnis einer Beweisaufnahme offensichtlich ist und auf der Hand liegt oder nicht, von Wertungen abhängt, könnten die Beteiligten eine sichere Prognose über die Auffassung des Revisionsgerichts nicht machen. Sie wären somit gezwungen, auf jeden Fall neben der zulassungsfreien Revision (§ 116 Abs.1 Nr.5 FGO) eine Nichtzulassungsbeschwerde (§ 115 Abs.2 Nr.3 FGO) einzulegen. Demgegenüber scheint es insbesondere im Hinblick darauf, daß das FG die einzige Tatsacheninstanz ist, erforderlich und auch zumutbar, nach Erhebung von Beweisen im gerichtlichen Verfahren die Gründe für die richterliche Überzeugung in dem Urteil anzugeben (§ 96 Abs.1 Satz 3 FGO), mag das FG ggf. auch im übrigen gemäß § 105 Abs.5 FGO zustimmend auf die Begründung des Verwaltungsakts oder die Ausführungen in der Rechtsbehelfsentscheidung verweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65071

BFH/NV 1994, 72

BStBl II 1994, 707

BFHE 174, 391

BFHE 1995, 391

BB 1994, 1628

BB 1994, 1628 (L)

DB 1994, 1760 (L)

DStR 1994, 1654 (KT)

DStZ 1995, 160 (K)

HFR 1994, 604-605 (KT)

StE 1994, 477 (K)

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